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Marx und mehr

Klassen gibt es, seit es Ungleichheiten zwischen den Menschen gibt. Eine kleine Begriffsgeschichte

Die Spannung zwischen Reich und Arm gehört zu den ältes­ten Konflikten des menschlichen Zusammenlebens. Ungleich­heiten gibt es vermutlich schon, seit sich Menschen in Rudeln, Stämmen und Staaten organisieren. Die ersten überlieferten Revolten von „denen da unten“ gegen „die da oben“ gab es vor mehr als drei Jahrtausenden, als sich unter Pharao Ram­ses III. die eigentlichen Erbauer der Grabstätten im „Tal der Könige“ mithilfe gewaltloser Streiks gegen die ausbleibende Lieferung von Lebensmittelrationen auflehnten.

Wohin man auch in die Geschichtsbücher schaut – im­mer und überall gab es ein Oben, eine Mitte und ein Unten. Das gilt für das alte Ägypten wie für die Maya, das China der frühen Dynastien oder polynesische Gesellschaften. Mangels Aufstiegsmöglichkeiten gehörte man in der Regel zeitle­bens der Gruppe an, in die man hineingeboren wurde.

„Klasse“ gab es schon im alten Rom 

Erstmals in zivilen Zusam­menhängen als „classis“ bezeichnet und wurden diese Gruppen in Rom, und zwar vom dortigen Finanzamt. Ihm ging es darum, die Bevölkerung anhand ihrer materiellen Mittel in Steuerklassen zu unterteilen. Die­se amtliche Anerkennung faktischer Ungleichheiten wurde aber poli­tisch nicht weiter problematisiert.

Im christlichen Mittelalter galt die Einteilung der Menschen in
eine dreigliedrige Ständeordnung: Klerus, Adel und alle freien Bauern und Bürger. Die Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums wurde als gott­gegeben gerechtfertigt. So legitimierten sich die privilegierten Positionen der vermeintlichen Stellvertreter Gottes auf Erden und der Inhaber der weltlichen Macht.

Immer wieder aber gab es auch aufseiten des Christentums Versuche, alle Ungleichheiten einzuebnen. Berufen konnten sich Reformer und die Vorkämpfer einer „klassen­losen Gesellschaft“ auf eine Beschreibung der christlichen Urgemeinde in der biblischen Apostelgeschichte, in der alle Christen ihr Eigentum abgeben und miteinander teilen.

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Je mehr Güter ab der industriellen Revolution produziert wurden, umso dringlicher stellte sich die Frage nach der Ver­teilung des Reichtums. Nach und nach ergriffen die Bürger die Macht, die über Produktionsmittel verfügten – Kapital, Land, Rohstoffe und Maschinen. Im 19. Jahrhundert wuchs auf diese Weise zwar der Wohlstand, vor allem aber jener der ohnehin schon Wohlhabenden. Immer größere Massen von Arbeitern verkauften ihre Arbeitskraft in den Fabriken, anstatt wie zuvor auf Feldern ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften.

Dann schlug die Stunde des Sozialismus. Karl Marx und Friedrich Engels riefen einen Klassenkampf zwischen Bour­geoisie (besitzendes Bürgertum) und Proletariat (besitzlose Lohnabhängige) aus. Im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft würden sich die werktätigen Massen, so die Theorie, gegen die Kapitalisten erheben. Nach einer solchen Revolution, glaubte man, würde das Privateigentum abgeschafft und gerecht verteilt.

Dort, wo es tatsächlich zu Revolutionen kam, wie in Russland, wurde das kommunistische Ideal einer „klassenlosen“ Gesellschaft nie erreicht. In europäischen Industrienationen wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland hingegen gelang es, die Kehrseiten des Kapitalismus politisch so weit einzudämmen, dass es zu keinem Umsturz kam. Gewerk­schaften waren in der Lage, die Interessen der Arbeitenden gegenüber den Arbeitgebern zu formulieren und durchzusetzen – von der Gesundheitsversorgung bis zum bezahlten Urlaub.

Auch nach dem Wirtschaftswunder blieben Klassenunterschiede

Die nationalsozialistische Propaganda leugnete die Gegen­sätze zwischen den Klassen und betonte die gemeinsamen Interessen einer vermeintlich gleichen „Volksgemeinschaft“. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Erzählung des durch den Marshallplan befeuerten „Wirtschaftswunders“ durch, das „Wohlstand für alle“ bringen sollte. Der Soziologe Hel­mut Schelsky prägte in Anbetracht der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik in der Nachkriegs­zeit den Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Trotz dieser optimistischen Beschreibung bestanden die Klassenunter­schiede weiterhin fort.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sah in jeder Gesellschaft ein Oben, ein Unten und eine Mitte – je breiter die Mitte sei, umso geringer das Ungleichgewicht zwischen den Klassen. Unterscheidungsmerkmal ist laut Bourdieu neben den ökonomischen Ressourcen auch der kulturelle „Geschmack“. Wie viele Bücher jemand im Schrank stehen hat, wie viel er oder sie von Kunst versteht, wie viel jemand fernsieht oder welche Nahrung man zu sich nimmt – das sind Bourdieu zufolge die „feinen Unterschiede“, in denen sich die Ungleichheit der Menschen in der moder­nen Gesellschaft ausdrückt.

Als „soziale Mobilität“ bezeichnet man den Auf­- oder Abstieg von Individuen in eine andere soziale Klasse. In Deutschland erlahmt gegenwärtig die Aufstiegsdynamik, und Klassenschranken werden deutlicher. Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Es werden Debatten über Vermögenssteuer, Min­destlöhne und Hartz IV geführt. Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse werden – analog zum Rassismus und Sexismus – als Klassismus bezeichnet.

Die Klassenfrage bleibt aktuell und wartet noch immer auf eine Antwort.

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