Mein Berufsalltag besteht vor allem aus Gesprächen – mit Pflegeeltern, leiblichen Eltern, Jugendeinrichtungen, Familiengerichten. Ich suche nach der besten Lösung für Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können. Leicht zu finden ist diese „beste Lösung“ selten. Viele Kinder, die ich in Pflegefamilien betreue, hatten einen schweren Start ins Leben. Bei manchen spielte Gewalt und Missbrauch eine Rolle, bei anderen Überforderung oder Drogensucht der Eltern, manchmal schon in der Schwangerschaft.
In den meisten Fällen bekommen wir als Jugendamt einen Hinweis von Verwandten, Nachbarn oder Erziehern. Auch Frauenärzte melden sich regelmäßig bei uns, um auf Schwangere hinzuweisen, die unsere Unterstützung brauchen. Ist das Kindeswohl gefährdet, greift das Jugendamt ein – nicht selten holt es die Kinder dann per Gerichtsbeschluss aus den Familien. Häufig sind die noch sehr klein, wenn sie in eine Pflegefamilie kommen.
„Ist das Kindeswohl gefährdet, greift das Jugendamt ein – nicht selten holt es die Kinder dann per Gerichtsbeschluss aus den Familien“
In vielen Bundesländern werden händeringend Pflegeeltern gesucht. In unserem niedersächsischen Landkreis haben wir zum Glück viele interessierte Paare. Manche mit unerfülltem Kinderwunsch, manche mit schon älteren Kindern, vereinzelt auch gleichgeschlechtliche Paare. Sie alle müssen ein intensives Auswahlverfahren durchlaufen.
Im ersten Gespräch kläre ich über die Rahmenbedingungen auf und bitte die Paare, genau über ihre Entscheidung nachzudenken. Es gibt zwei wichtige Aspekte: Zum einen geht das Sorgerecht nicht automatisch auf die Pflegeeltern über, sondern bleibt in der Regel bei den leiblichen Eltern oder beim Jugendamt. Darunter fallen grundsätzliche Entscheidungen wie der Wohnort, Operationen und Impfungen oder auch die Anmeldung zur Schule oder zum Kindergarten. Die Pflegeeltern sind – offiziell ausgedrückt – „Vertragspartner“ des Jugendamtes und übernehmen für die leiblichen Eltern die Pflege der Kinder. Dafür bekommen sie eine finanzielle Unterstützung vom Jugendamt und haben Anspruch auf fachliche Hilfe und Begleitung.
Zum anderen spielen die leiblichen Eltern weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Kinder. In der Regel gibt es ein- bis zweimal pro Monat ein Treffen, wenn die Eltern und die Kinder das wollen.
„Nicht jedes Jugendamt schaut so genau hin. Anders könnte man wohl kaum erklären, dass immer wieder Kinder in die Obhut von offensichtlich völlig ungeeigneten Menschen übergeben werden“
Im zweiten Schritt müssen sich die Pflegeeltern „offiziell“ bewerben – mit ärztlichem Attest, polizeilichen Führungszeugnissen, Einkommensnachweis und „Motivationsschreiben“. Wir wollen genau wissen, warum sich die Paare für ein Pflegekind interessieren, wie ihre eigene Kindheit war und welche Vorstellungen sie für die gemeinsame Zukunft haben.
Außerdem gibt es noch ein Bewerberseminar – fünf Abende, je drei Stunden. Ich versuche, dabei auch ein Bewusstsein für die Kinder und ihre Geschichte zu schaffen. Außerdem besuche ich die Bewerber zu Hause, um zu schauen, ob das für die Kinder geeignet ist. Zum Beispiel muss der Wohnraum groß genug sein. Aber natürlich geht es zu großen Teilen darum, wie empathisch und motiviert die Bewerber auftreten.
Manche Bewerberpaare empfinden diesen monatelangen Prozess als zu intim. Für uns ist er aber sehr wichtig. Immerhin haben wir einen besonderen Schutzauftrag und wollen nicht einen neuerlichen Bruch riskieren. Deshalb gibt es auch Bewerber, die wir ablehnen; manchmal wegen eines schlechten Bauchgefühls, weil das Paar den Kindern kein gesichertes Umfeld bieten könnte oder weil sie schon zu alt sind. Eine echte Altersgrenze für Pflegeeltern gibt es nicht. Aber Eltern und Kind sollten in einem „familienentsprechenden“ Altersabstand sein. All diese Entscheidungen treffen wir nie alleine, sondern immer im Team.
„Ich bleibe mit allen Pflegefamilien in Kontakt. Mindestens einmal pro Jahr besuche ich jede der 42 Familien, für die ich zuständig bin.“
Wenn wir aber das Gefühl haben, Kind und Pflegeeltern könnten gut zusammenpassen, beginnt das Kennenlernen. Als Erstes erfahren die zukünftigen Eltern alles über das Kind und seine Geschichte – schonungslos ehrlich. Vorgeschichte, Lebenssituation der leiblichen Eltern, Behinderungen oder Auffälligkeiten. Fällt die Entscheidung der Eltern positiv aus, lernen sie das Kind kennen – erst ganz zaghaft, ohne zu große Hoffnungen zu wecken. Ich gehe mit ihnen durch die Jugendeinrichtung, oder wir treffen uns zum Kaffee in der Übergangspflege – das sind Einrichtungen oder auch Familien, die die Kinder in einer akuten Krisensituation aufnehmen, bis eine dauerhafte Pflegefamilie gefunden ist. Im Laufe der Zeit wird der Kontakt immer intensiver. Man macht erste kleinere Ausflüge, verbringt gemeinsam ein Probewochenende. Dabei schauen wir genau hin, ob die Chemie stimmt.
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Aus eigener Erfahrung als Sozialpädagogin weiß ich: Nicht jedes Jugendamt schaut so genau hin. Anders könnte man wohl kaum erklären, dass immer wieder Kinder in die Obhut von offensichtlich völlig ungeeigneten Menschen übergeben werden.
Natürlich bleibt auch bei uns ein Restrisiko, dass die Konstellation nicht passt. Manchmal ist der Rucksack der Kinder einfach zu groß, und die Eltern stoßen an ihre Grenzen – zum Beispiel durch Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Manchmal zeigen sich die früh, manchmal auch erst nach vielen Jahren im Übertritt in die Pubertät. Wie oft das geschieht, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik sagt aber, dass jede zweite Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien vorzeitig beendet wird.
Um das zu verhindern, bleibe ich mit allen Pflegefamilien in Kontakt. Mindestens einmal pro Jahr besuche ich jede der 42 Familien, für die ich zuständig bin. Alle sechs Monate treffen wir uns zu einem Gespräch im Jugendamt, in dem es um die Entwicklung des Kindes, um Probleme, aber auch den Kontakt mit den leiblichen Eltern geht. Außerdem telefonieren wir regelmäßig. Der Austausch im Team ist noch aus einem anderen Grund sehr wichtig: Es nimmt Druck von den eigenen Schultern und gibt mir die Möglichkeit, mit den Kollegen über besonders schwere Schicksale offen zu sprechen. Dadurch nehme ich wenig von meiner Arbeit mit nach Hause, obwohl ich im Alltag viel Leid sehe und schlimme Geschichten höre.
Illustration: Raúl Soria