Daniel Eichler kämpft für grenzüberschreitende Solidarität. Er erklärt das ohne Pathos, ruhig und ernst. Das sei die Zukunft solidarischen Handelns. "Nationalstaaten erkenne ich nicht als gegeben an", sagt er. Die Grenzziehung zwischen Staaten und damit zwischen Menschen sei künstlich. "Wir alle sollten die gleichen Rechte haben." Und gleiche Chancen. Daniel – groß gewachsen und schlaksig, blonder Pferdeschwanz, 19 Jahre alt und im Abschlussjahr des Gymnasiums – engagiert sich seit einem Jahr in der globalisierungskritischen Organisation Attac und deren Jugendorganisation Noya (network of young altermondialists). Für das Interview ist er von Aschaffenburg ins Bundesbüro von Attac nach Frank-furt am Main gekommen. Er sitzt im Kon--fe-renzraum vor einer Wand, die mit Veranstaltungsplakaten beklebt ist und dem nüchternen Raum etwas Farbe gibt, und berichtet vom G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007: "Was mich dort in meinem Engagement bestärkt hat, waren die Erfahrungen in den Camps. Dass ein anderes Leben möglich ist – weg von dieser neoliberalen, egoistischen Gesellschaft. Das war ja eine kleine Gesellschaft in den Camps, dort wurde solidarisch geteilt, dort war ein schönes Zusammenleben ohne Egoismus möglich." Das will er, rund um die Welt.
Mit seinem globalen Solidargefühl ist Daniel Eichler nicht allein. Attac zählt in Deutschland heute knapp 20 000 Mitglieder, sagt Sue Dürr, 72, eine der Mitbegründerinnen der Organisation in Deutschland. Attac wurde hier im Jahr 2000 ins Leben gerufen, zwei Jahre nach Gründung der Organisation in Frankreich. Tendenz der Neu-Mitgliederzahl seit dem Jahr 2000 immer steigend. Vor allem in den Monaten vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm, so Sue Dürr. Auch wenn man auf die Spendenbereitschaft in Deutschland blickt, ist das Ziel solidarischen Handelns für viele Menschen längst nicht mehr allein die eigene Gesellschaft.
Was die Höhe der Spendenaufkommen betrifft, ragen bei allen Nothilfeorganisationen die Jahre 2004 und 2005 heraus: die Jahre der Naturkatastrophen Tsunami und des Erdbebens in Pakistan. Was auch an der hohen medialen Aufmerksamkeit lag, erklärt Caritas-Pressereferent Achim Reinke. 2004 kamen Caritas international 23,5 Millionen Euro zu, im Jahr 2005 76 Millionen Euro. Ärzte ohne Grenzen wurden 2005 67,6 Millionen Euro gespendet. Doch auch in "normalen Spendenjahren", wie Achim Reinke sagt, steigt in Deutschland das Spendenaufkommen. Bei Ärzte ohne Grenzen von 16,7 Millionen (2003) auf 30,8 Millionen Euro (2006). Daneben steigen die Spendeneingänge auch bei vielen anderen Organisationen und Stiftungen wie bei Menschen für Menschen, der Welthungerhilfe oder dem Kinderhilfswerk Terre des Hommes. Dazu kommen Konzertveranstaltungen wie Live Earth und Internet-Petitionen – in unterschiedlichster Form wird Solidarität heute gezeigt.
Bemerkenswert ist, dass die traditionellen Solidaritätsagenturen in der Bundesrepublik da-gegen an Zuspruch einbüßen. An allererster Stelle der Staat, der sein Sozialsystem abbaut – was nicht nur Widerstand, sondern auch Beifall findet. Und traditionelle Institutionen wie Gewerkschaften und Kirchen verlieren jedes Jahr Mitglieder. Sicher, seit Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche wurde, ist die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche gesunken – 2005, im Jahr seines Amtsantritts, lag sie bei 89 565. Doch in den vierzehn Jahren zuvor waren bereits Millionen Menschen ausgetreten, jedes Jahr mehr als hunderttausend, manchmal weit mehr.
Die Veränderung im Solidarverhalten – wie Statistiken sie zeigen – hat, so Ulrich Steinvorth, auch mit dem veränderten Verständnis von Solidarität zu tun. Steinvorth ist Professor für angewandte Philosophie an der Universität Hamburg und beschäftigt sich mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität. "Heute versteht man unter solidarischem Handeln etwas anderes als noch vor einigen Jahrzehnten", erklärt er, "Solidargemeinschaften waren früher Gesellschaften, die nach Tod, Unfall oder Unglück eines Mitglieds für den Lebensunterhalt seiner Familie oder auch die Schulden des Mitglieds einsprangen." Dazu waren die Mitglieder durch Vertrag oder Geburt rechtlich verpflichtet. "Heute haben die Aufgaben solcher Gemeinschaften Versicherungen und der Sozialstaat übernommen", erklärt Steinvorth. "Solidarität wird heute fast nur noch als etwas verstanden, was man gegenüber Individuen oder Gruppen übt oder empfindet, gegen die man gerade keine Rechtspflichten hat. Sie ist ein freiwilliges Engagement für Menschen oder eine Sache, das nicht unmittelbar dem eigenen Vorteil dient." Dass sich das Feld möglicher Ziele unserer Solidarität verändert hat, sich Menschen also zunehmend für andere rund um die Welt einsetzen, habe damit zu tun, dass "die Globalisierung unseren Gesichtskreis erweitert hat". Das veränderte Verständnis von Solidarität – freiwilliges Engagement für Menschen, denen man nicht verpflichtet ist – sei nicht nur auf internationaler Ebene erkennbar, "sondern auch auf nationaler, wie viele Bürgerinitiativen zeigen". Oder zum Beispiel auch der Einsatz freiwilliger Helfer und das enorme Spendenaufkommen im Zuge des Oderhochwassers von 2002.
Wie sehr sich unser Verständnis von Solidarität hin zum freiwilligen Engagement verändert hat, so Steinvorth, zeige sich ganz klar auch in Reaktionen auf Maßnahmen des Staates: "Soweit wir zu Hilfeleistungen an Mitglieder des eigenen Staates durch Steuern und andere Abgaben gezwungen werden, betrachten wir diese Leistungen nicht als solidarisch und empfinden Namen wie den des ,Solidaritätszuschlags’ als durchsichtigen Betrug."
Mitgliederverluste der traditionellen Solidaritätsagenturen wie beispielsweise der Gewerkschaften erklärt Phil Langer, Sozialpsychologe an der Universität München, mit der Veränderung unserer Gesellschaftsstruktur: "Gewerkschaften zeichneten sich in den Fünfzigerjahren noch dadurch aus, dass die Zugehörigkeit zu ihnen durch Herkunft und Gesellschaftsschicht vorgegeben war. Solidarität war insofern eine Verhaltensform, die als geradezu natürlich angesehen wurde." Der Prozess der Individualisierung habe zu einer Herauslösung aus diesen Gemeinschaftsformen geführt. "Heute", so Langer, "ist in unserer Gesellschaft spürbar: Menschen sind freier, das Klassenzugehörigkeitsdenken hat nachgelassen; gleichzeitig wird dies aber als Verlust von Sicherheit empfunden. Solidarität mit anderen – ob auf nationaler oder internationaler Ebene – gibt das Gefühl, sinnvoll zu handeln, und bedeutet somit einen Identitätsmehrwert." Allerdings würden staatliche Solidarsysteme häufig als unbewegliche Apparate empfunden, als anonyme Organisationen, die eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe unmöglich scheinen ließen.
Auch das Attac-Mitglied Daniel Eichler traut den staatlichen Institutionen nicht mehr viel zu. Der Staat baue sein So-zialsystem ab. Und weil er nicht mehr geglaubt habe, sei er mit 16 Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten, erzählt Daniel. Bei den Bahnstreiks habe er sich für die Lokführer engagiert, aber "in einer Gewerkschaft bin ich auch nicht".
Sein Hauptaugenmerk gelte internationalen Themen. Im Alltag, erklärt Daniel, bedeute das, die eigene Lebensweise zu reflektieren, sich immer wieder zu überprüfen: Was könn-te ich besser machen? Konsumverhalten kritisch zu sehen: Was brauche ich? Von wem wird es hergestellt? "Ganz wichtig: keine Produkte zu kaufen, die von Kindern gefertigt werden." Und: "Meine politische Arbeit. Vor allem daran zu arbeiten, dass in Deutschland überhaupt erst ein Bewusstsein entsteht, auf die Welt zu blicken, dafür Bildungsarbeit zu leisten. Das mache ich – an der Schule, bei großen Attac-Veranstaltungen. Bei Demonstrationen trete ich an Leute heran, um mit ihnen zu reden, Gedanken in Bewegung zu setzen und ihr Blickfeld zu vergrößern."
Daniels Hauptkommunikationsmittel für globale Solidarität ist das Internet. Überallhin zu reisen oder immer zu telefonieren, das wäre zu teuer. Der Kontakt mit Gruppen oder Organisationen in anderen Ländern ist selten unmittelbar. Und noch weniger mit denen, für die Daniel sich einsetzt. So geht es den allermeisten, die Internet-Petitionen unterschreiben, zu Benefizkonzerten gehen, für Menschen in anderen Ländern demonstrieren oder Geld spenden. Das Leid nicht mehr direkt zu erleben, aus der Ferne zu helfen – ist das nur noch eine Solidarität "light", die hier praktiziert wird, um vorhandene, aber in unserer Gesellschaft nicht mehr erfüllbare Bedürfnisse nach Solidarität zu befriedigen? "Die neue Solidarität verlangt Engagement und Opfer und ist daher nicht light", sagt Steinvorth. "Gewiss befriedigt sie Bedürfnisse, die traditionelle Solidaritätsagenturen nicht befriedigen."
Entsteht also so etwas wie eine Weltgemeinschaft, die sich für Solidarität einsetzt? "Ja", erklärt Steinvorth, "unter jenen, die gemeinsam für eine Sache arbeiten, wie den Schutz der Menschenrechte oder der Umwelt." Vernetzung, wo es inhaltliche Schnittmengen gibt. Ein Ziel, das Attac verfolgt – und, wie Sue Dürr sagt, "innerhalb Europas schon gut erreicht hat". Dass Menschen sich mehr und mehr für andere, in anderen Ländern engagieren oder durch Spenden helfen, ist in ihren Augen die Folge eines Bewusstseinswandels: "Immer mehr Menschen hier, in den westlichen Industriestaaten, begreifen, dass unser gutes Leben auf Kosten anderer Menschen etwa in Afrika oder Asien stattfindet." Sie glaubt an die Vernetzung von Organisationen und Gruppen, die auf lokaler Ebene beginnt und sich bis auf die internationale fortsetzt. Denn letztlich sei es mit den Zielen von Solidarität wie mit einer russischen Puppe: "Was wir im Kleinen erleben, findet in anderen Ländern im Großen statt."
Phil Langer bewertet das Engagement von Gruppen, die sich für internationale Themen einsetzen, ähnlich: "Ohne das Bemühen, den Handlungsraum für politische Entscheidungen hier und heute zu vergrößern, bleibt Engagement für globale Solidarität ohne Folgen."
Und wie sieht die Zukunft der Solidargemeinschaften aus? Der traditionellen? Der neuen? "Für die neuen Solidaritätsformen" sagt Ulrich Steinvorth, "gibt es so viel Bedarf, dass ich ihnen eine große Zukunft voraussage. Die alten, wenn wir darunter den Sozialstaat verstehen, werden aber nicht an Bedeutung verlieren. Denn ohne Staatszwang würden wir überhaupt nicht überleben, so lästig wir Zwang immer finden. Beide Formen sind bestens verträglich." Aber, so Steinvorth: "Der Sozialstaat, ohne den wir nicht überleben können, wird nur überleben, wenn er neue Formen findet, das Unrecht zunehmender Arbeitslosigkeit und anwachsender Ungleichheit zu verhindern. Das bedingungslos ausgezahlte Grundeinkommen ist dafür ein Beispiel. Aber neue Formen des Sozialstaats werden ohne die neuen Formen der Solidarität nicht entstehen können."
Daniel Eichler sieht sich in zehn Jahren "wahrscheinlich weiterhin bei Attac", er will sich auf Friedens- und Konfliktforschung spezialisieren. Ein Studium der Soziologie und Ethnologie möchte er dann abgeschlossen haben. Ob er in Deutschland sein wird, weiß er nicht. Am liebsten dort, wo sein Engagement besonders gebraucht wird. Wo das dann sein wird, das ist eine andere Geschichte.