Thema – Land

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Hin und weg

Was ist eigentlich los auf dem Land? Auf der einen Seite gibt es verlassene Dörfer, die vor sich hin gammeln, andernorts blüht das Landleben – auch, weil viele Menschen von der städtischen Hektik genervt sind

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fluter: Gerade jüngere Menschen zieht es nach der Schule in die Städte. Sterben die Dörfer aus?

Gerhard Henkel: Es gibt unterschiedliche Entwicklungen, je nach Bundesland. Aber insgesamt sinkt die Einwohnerzahl auf dem Land, im Osten aber mehr als im Westen. Junge Leute hat es ja schon immer in die Stadt gezogen. Dass heute noch mehr als früher das Dorf verlassen, hat auch damit zu tun, dass viel mehr Jugendliche Abitur machen und dann zum Studium in die Städte ziehen.

Aber es fällt doch auch schwer, auf dem Land Arbeit zu finden. Das Handwerk ist vielerorts verschwunden, viele Bauernhöfe sind aufgegeben worden. Wenn der eine Bau- er mit seinen Drohnen 500 Hektar bewirtschaftet, gibt es für die anderen nicht mehr viel zu tun.

Der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und schließlich zur Dienstleistungsgesellschaft hat die Dörfer tiefgreifend verändert. Allein in der Landwirtschaft ging die Zahl der Betriebe von 1950 bis heute von ca. 2,4 Millionen auf etwa 270.000 zurück, die der Erwerbspersonen von 7,1 Millionen auf knapp eine Million. Ähnlich stark verlief die Schrumpfung in der Forstwirtschaft und im Landhandwerk. Und dennoch haben wir einen großen Teil der Wertschöpfung immer noch auf dem Land. Das ist ja nicht das Armenhaus der Republik, sondern oft die Heimat der sogenannten Hidden Champions, also mittelständischen Weltmarktführern. Da gibt es bärenstarke Betriebe in Orten mit 800 bis 2.000 Einwohnern, etwa in Niedersachsen, im Sauerland oder in Baden-Württemberg.

Aber seltener im Osten des Landes.

Es gibt in der Tat ein Ost-West-Gefälle. Auch weil es nach der Wende eine Art Deindustrialisierung gegeben hat und viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig waren. Zudem wurden die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaf- ten (LPG) aufgelöst. Da haben viele Menschen von heute auf morgen ihre Arbeitsplätze verloren und deswegen bis heute eine geringere Rente. Auch die traditionellen Vereinsstrukturen, die im Westen viele Dörfer tragen, spielen eine geringere Rolle.

Wie beurteilen Sie den Zuzug von Großstädtern, die vor dem technologie getriebenen Alltag am Computer am Wochenende in eine Welt voll Selbstgemachtem und Kräutergärten fliehen?

Es gibt eine reale Sehnsucht nach einem naturnahen und entschleunigten Leben. Auf die Frage, wo sie am liebsten wohnen würden, entscheiden sich immer mehr Bürger für eine ländliche Gemeinde als für die Großstadt. Es ist ja auch so, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen auf dem Land zufrieden mit ihrem Leben sind. Natürlich leiden viele Dörfer unter dem Wegzug der Jungen, aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung. Leute, die Ruhe und Freiheit suchen, ziehen aus der Stadt aufs Land. Familien mit Kindern, die sich die hohen Mieten nicht leisten wollen oder können und ihre Kinder statt zwischen Autos lieber naturnah und ruhig auf- wachsen sehen wollen.

Es gibt eine regelrechte Schwemme von Magazinen wie „Landlust“, andererseits schreiben Sie Bücher wie „Rettet das Dorf!“. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das Problem ist die „hohe“ Politik in Bund und Ländern, die die Bürger und Kommunen auf dem Land nicht genug unterstützt. Es gibt in den meisten Bundes- und Landesministerien eine erhebliche Arroganz gegenüber den kleinen Gemeinden. Ein Musterbeispiel der Fernsteuerung und Fremdbestimmung waren die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehnte. Über 20.000 Dörfer verloren ihren Status als Gemeinde und damit in einer politischen Sekunde ihren Bürgermeister und Gemeinderat. Über 300.000 demokratisch gewählte ehrenamtliche Kommunalpolitiker wurden „beseitigt“. Ein Demokratieverlust, der bis heute wirkt. Die lokale Politik wurde in einen größeren Ort ausgelagert, die Dörfer zu ohnmächtigen Ortsteilen degradiert. Da ist eine über Jahrhunderte gewachsene Selbstverantwortung zerstört worden.

Das heißt, wenn die Friedhofsmauer marode ist, muss man erst in zentralen Orten anfragen, ob man sie sanieren darf?

Genau so ist es. Früher kam man dann zur Ratssitzung zusammen, hat sich das angeguckt, und ein paar Wochen später war die Mauer kostengünstig repariert. Heute setzt ein Behörden- und Aktenmarathon ein. Da kommen Politiker und Beamte aus den Großgemeinden und schauen sich das mehrfach an. Es gibt Gutachten und Anträge, und in der Regel ist kein einziger Bürger des Dorfes mehr dabei. Das ist ein Verlust an Mitmach-Demokratie.

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land ist ja eigentlich im Grundgesetz verankert. Damit scheint es aber nicht weit her zu sein.

Das stimmt. Ein anderes Beispiel für die Ungleichbehandlung ist die Schließung vieler Dorfschulen, weswegen die Kinder teilweise stundenlange Schulwege haben. Da wurden oft willkürliche Mindestschülerzahlen festgelegt, mal 80, mal 60, mal 40, und insgesamt 20.000 Schulen dichtgemacht. Der Verlust der Dorfschule wird heute von vielen Pädagogen, Psychologen und Eltern bedauert. Es gibt mittlerweile ein Nachdenken, dass diese Fremdbestimmung schädlich ist. Aber leider nicht überall. Ich schaue immer gern nach Rheinland-Pfalz, wo man sich viele Gedanken darüber macht, wie man den Dörfern helfen kann. Dort unterstützen die Ministerien die Bürgermeister und Gemeinderäte in den kleinen Dörfern bei ihren Bemühungen, Dorfläden und Treffpunkte einzurichten oder zu erhalten. Und zwar durch konkrete Beratungen und auch der einen oder anderen Geldzuwendung. Das alles ist vorbildlich und geschieht nicht mal in einem besonders reichen Bundesland.

Sie haben einmal vorgeschlagen, dass man jedem Dorf 10.000 Euro zur Verfügung stellt, ohne Kontrolle, ohne Auflagen.

Das ist ja keine Riesensumme, aber damit würde man den Menschen vor Ort zeigen: Wir vertrauen darauf, dass ihr selbst wisst, was euch hilft, und: Wir haben euch nicht vergessen. Vielleicht würde damit ein Treffpunkt für Jung und Alt initiiert oder der letzte Gasthof gerettet.

Was würden Sie noch empfehlen, um die Dörfer zu stärken?

Dass die Eigenheimzulage reaktiviert wird, ist schon mal ein guter Schritt. Auf dem Land gehört das Eigenheim traditionell zur Baukultur. So können auch alte Häuser umgebaut und renoviert werden. Generell sollte man die Landkommunen besser ausstatten, anstatt das Land aus vielen kleinen Töpfen zu füttern, die erst über zahllose Hürden zu erreichen sind.

Nun liegt der Niedergang mancher ländlichen Gemeinden nicht nur an der Politik. Vielerorts gibt es nicht mal mehr eine Post oder eine Bankfiliale, auch keinen Supermarkt.

Da hat die Privatwirtschaft nur nachvollzogen, was von der Politik vorgemacht wurde. Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. Da entstehen durch private Initiativen Läden oder werden sogenannte Bürger-Busse von Ehrenamtlichen gefahren.

Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Politik ausruht, wenn es genügend Privatinitiativen gibt?

Auch wenn es oft auf das Engagement der Bürger ankommt, hat der Staat dafür zu sorgen, dass die Menschen überall in Deutschland gut leben können. Dass es zum Beispiel nicht zu weit zum Arzt ist oder ältere Menschen ohne große Umstände Lebensmittel kaufen können. Das sind Verpflichtungen. Der versprochene Ausbau der Internetversorgung wurde auch noch nicht umgesetzt. Beim Thema Breitband habe ich aber große Hoffnung. Das hat sich zwar verzögert, aber das ist jetzt ein Thema, das angepackt wird. Allgemein muss sich die Erkenntnis, dass wir nicht nur Städte brauchen, sondern auch das Land, noch mehr durchsetzen. In England gibt es zum Beispiel den Countryside Fund von Prince Charles, der Zehntausende Mitglieder hat – aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten: Künstler, Kirchenvertreter, Manager. Das ist ein großes gesellschaftliches Bekenntnis zum Land, das ich mir auch hier in Deutschland wünschen würde.

Zumal das Landleben für vieles steht, worüber sich auch Städter zunehmend Gedanken machen. Also etwa Nachhaltigkeit und Naturnähe oder auch sozialer Zusammenhalt. Ist das Land da Vorreiter?

Es gab dort immer Genossenschaften und Vereine, die das solidarische Denken gefördert haben. Man weiß auf dem Land, wie man anpackt und sich gegenseitig hilft. Auch in Sachen Nachhaltigkeit ist das Land Vorreiter. Die Menschen dort sind ja gewohnt, in großen Zeiträumen zu denken, die neigen nicht zu Schnellschüssen. Es gibt eine Kultur des Hegens und Pflegens, des Bewahrens. Das sind ja Tugenden, die im Angesicht von Umweltverschmutzung und Klimawandel hoch im Kurs stehen.

Der Kampf gegen den Klimawandel findet vor allem auf dem Land statt. Mancherorts stehen so viele Windräder oder Solaranlagen herum, dass man die Landschaft kaum noch sieht.

Das Interessante ist ja, dass das Land früher schon mal der Energiespender der Nation war, durch Holzkohle etwa oder durch Wasserkraft. Dann hat es diese Energiehoheit verloren, weil Atomkraft- und Kohlekraftwerke gebaut wurden. Nun, durch die Energiewende, ist die Energiegewinnung wieder auf dem Land angekommen. Aber es ging viel zu schnell, die Bürger und Kommunen wurdne beim zügigen Ausbau der regenerativen Energien oft überrumpelt und entmündigt.

Regt sich deswegen nun allerorts Widerstand, wenn es um den Bau der Stromleitungen geht, die den Windstrom aus dem Norden in den Süden transportieren sollen?

Ja, das hat mit den Erfahrungen der allzu schnellen Energiewende zu tun. Da wurde zu viel verlangt von den Menschen. Das muss in Zukunft behutsamer gemacht und die Bürger und Kommunen mehr einbezogen werden, wenn vor ihrer Haustür riesige Anlagen geplant werden. In Landschaften, in denen es nur noch Windräder oder Maisfelder für die Biogasanlagen gibt und es nach Gülle riecht, kommen auch Touristen nicht gern.

Die Dorfjugend kommt in die Stadt zum Studium, die Städter fahren auf den Erdbeerhof. Früher wurden die Menschen aus der Provinz in der Stadt belächelt, heute tragen sie dieselbe Mode und hören dieselbe Musik. Kann man sagen, dass sich die Menschen aus Stadt und Land nähergekommen sind?

Das stimmt, es ist ein ständiger Austausch. Und dennoch gibt es unterschiedliche Lebensstile, und das ist auch gut so. Denn wir brauchen beides: die Großstadt mit ihren Hochschulen und Kultureinrichtungen, aber auch das Land mit Traditionen, Gemeinwohldenken, Anpackkultur und Natur. Es muss dem Land gut gehen und der Stadt. Und daran müssen auch die Eliten der Gesellschaft arbeiten. Staat und Gesellschaft profitieren vom Austausch, vom Geben und Nehmen zwischen Stadt und Land.

*Gerhard Henkel ist Humangeograf und Professor an der Universität Duisburg-Essen. Seit 45 Jahren befasst er sich mit unterschiedlichen Themen der historischen und aktuellen Entwicklung des ländlichen Raumes. Er hat das Buch „Rettet das Dorf!“ geschrieben (erschienen im dtv-Verlag). Auf bpb.de könnt ihr zudem sein Buch „Das Dorf – Landleben in Deutschland“ bestellen (Nr. 1476)

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