„Makrosoziologie“ steht am Büro von Steffen Mau in der Berliner Humboldt-Universität. Das ist Programm: Mau hat das Land auf die Couch gelegt. Was treibt die Deutschen um, was regt sie auf? Welche Werte teilen sie? Ist die Gesellschaft gespalten? Steffen Mau wollte Daten. Und untersuchte über zwei Jahre, bei welchen Themen die Leute an die Decke gehen.
Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen
fluter: Lastenrad, Kindergrundsicherung, Gendern, Veggieday, arabische Clans. Bei mindestens einem dieser Wörter dürfte bei unseren Leserinnen und Lesern der Puls steigen, Herr Mau. Warum reicht manchmal schon ein Begriff, um uns aus der Fassung zu bringen?
Steffen Mau: Solche Begriffe sind Chiffren. Sie stehen symbolisch für größere Themen und berühren moralische Grundüberzeugungen, etwa darüber, dass der Sozialstaat schwach oder Migration gefährlich ist. Menschen können prinzipiell offen sein für rationale Argumente – kommt ein solcher Reizbegriff auf, kann eine Debatte spontan umschlagen. Es wird emotional, es wird laut, und das eigentliche Thema, etwa die Bekämpfung von Kinderarmut, wird oft im Streit zerrieben.
Diese ständige Erregung scheint vielen Angst zu machen. Laut der Studie „Jugend in Deutschland“ aus dem Frühjahr fürchten sich junge Menschen genauso stark vor einer Spaltung der Gesellschaft wie vor den Folgen des Klimawandels.
Die angebliche Spaltung ist ein Angstszenario der Deutschen, bei jungen wie älteren, seit Jahrzehnten schon. Und es stimmt ja: Wenn wir uns in der Welt umsehen, scheinen viele Gesellschaften im Konflikt zu versinken. Die USA sind politisch so gespalten, dass Verständigung unmöglich geworden ist. In Deutschland stehen wir unter einer Art Grundspannung, würde ich sagen. Die Pandemie, ein Krieg mitten in Europa, die Energiekrise: Wir haben in den vergangenen Jahren viele politische Schocks erlebt. Die Fliehkräfte zu den politischen Rändern werden stärker.
„Extreme Positionen und emotionale Aussagen bekommen mehr Aufmerksamkeit. Talkshows werden so besetzt und die Algorithmen sozialer Medien so entwickelt“
Aber gespalten sind wir deshalb noch nicht, sagen Sie.
Laut unserer Forschung gibt es eine relativ stabile, ideologiefreie Mitte. Die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft empfindet den Klimawandel und Ungleichheit als schlecht, Diversität und Migration mit Einschränkungen als gut.
Für ihre Studie haben Steffen Mau und seine Mitarbeiter Thomas Lux und Linus Westheuser mehr als 2.500 Personen zahllose Fragen gestellt – und Kleingruppen über Veggiedays, Obergrenzen für die Aufnahme Geflüchteter oder Homosexualität in Schulbüchern diskutieren lassen. Das Ergebnis der Befragungen hat mehr als 500 Seiten: „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ ist im Herbst 2023 erschienen. Im Buch vergleichen Mau und Co. Gesellschaften bildlich mit Tieren. Die USA sind ein Kamel: zwei strikt getrennte Lager beziehungsweise Höcker. Deutschlands Gesellschaft gleicht einem Dromedar mit einem großen Höcker in der Mitte und schwachen extremen Rändern.
Das Ergebnis Ihrer Studie überrascht. Warum macht es denn auf viele den Anschein, die deutsche Gesellschaft sei gespalten?
Der Eindruck entsteht dadurch, dass extreme Positionen und emotionale Aussagen mehr Aufmerksamkeit bekommen als die moderaten. Weniger am Esstisch, Gartenzaun oder im Kegelverein, aber Talkshows werden so besetzt, Überschriften geschrieben und die Algorithmen sozialer Medien werden so entwickelt. Wenn gleichzeitig die breite Mitte der Gesellschaft eher still ist und auch nicht angehört wird, entsteht das Gefühl, die Gesellschaft sei gespalten.
Die Rede von der Spaltung ist also eine selbsterfüllende Prophezeiung?
In den USA gibt es sogar Forschung dazu, dass die gefühlte Polarisierung die reale mit vorantreibt. Wenn wir erst mal denken, es gebe nur zwei unversöhnliche gesellschaftliche Gruppen, versuchen wir uns einer zuzuordnen. Sind wir für oder gegen die Coronamaßnahmen? Für oder gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine? Pro Israel oder pro Palästina?
Dieses Lagerdenken erschwert es, sich überhaupt zu verständigen und Kompromisse einzugehen.
Ja, viele Auseinandersetzungen werden dann unversöhnlich. Um einen Kompromiss zu finden, muss man den anderen erst einmal gute Absichten unterstellen und die andere Meinung respektieren. Das fällt leichter, wenn man nicht denkt, die andere Person sei bösartig und hinterhältig oder wolle gesellschaftlichen Schaden anrichten. Dieses Freund-Feind-Denken wird aber in der Öffentlichkeit oft aktiviert.
Wer hat daran Interesse?
Wir nennen sie Polarisierungsunternehmer: Rechtspopulisten, Identitäre, Querdenker, manche Politiker und Journalisten. Eigentlich alle, die gesellschaftliche Themen so zu ihrem Vorteil politisieren, dass es starke Emotionen und Lagerbildungen auslöst. Polarisierungsunternehmer drücken ganz gezielt auf Triggerpunkte.
Den Begriff „Triggerpunkt“ hat sich Steffen Mau aus der Medizin geliehen. Er beschreibt eigentlich Verhärtungen des Gewebes, wie sie an einem langen Tag am Schreibtisch im Nacken entstehen können. Eine falsche Bewegung, schon schreit man auf. Laut Mau können ganze Gesellschaften solche Verspannungen spüren. In den Gruppendiskussionen kristallisierten sich vier typische Trigger heraus:
1. Ungleichbehandlungen: das Gefühl, andere würden bevorteilt
2. Normalitätsverstöße: die Befürchtung, das „Normale“ würde verletzt, die Regeln unseres Miteinanders gebrochen
3. Entgrenzungsbefürchtungen: die Angst, etwas Fremdes, Suspektes könnte zum neuen Standard werden und zum Kontrollverlust führen
4. Verhaltenszumutungen: das Gefühl, von neuen Verhaltensvorgaben (zum Beispiel „Sprechverboten“ oder einem Tempolimit) eingeschränkt zu werden
Kann man von biografischen Merkmalen auf die politische Einstellung schließen? Wer studiert hat, in der Stadt lebt, gut verdient, ist tendenziell fürs Gendern, für Einwanderung, für ein Tempolimit?
Einkommen, Klasse und Bildungsgrad gehen mit entsprechenden Positionen einher. Aber das Land teilt sich nicht in eine sozial gleichgültige, kosmopolitische Klasse und eine Arbeiterschicht, die auf Klassenkampf und ethnische Abgrenzung drängt. Wir haben festgestellt, dass diese gefühlten Trennlinien viel schwächer oder anders verlaufen als erwartet.
Haben Sie dafür Beispiele?
Wir sehen in unseren Daten, dass die „fossilen Boomer“ mehrheitlich bereit sind, sich zugunsten des Klimaschutzes in ihrer Lebensweise einzuschränken. Dass interessanterweise mehr junge als alte Deutsche gegen ein Tempolimit sind. Dass Frauen generell toleranter sind als Männer, aber größere Vorbehalte gegenüber muslimischer Zuwanderung haben. Auch die Unterschiede in der Einstellung von Ost- und Westdeutschen, etwa gegenüber der Klimapolitik, fielen schwächer aus als erwartet.
Was hat den größten Einfluss auf die Anfälligkeit für Trigger?
Die Position in der Sozialstruktur, also die ökonomische Stellung. Je weiter unten man sitzt, desto heftiger ist die Abwehr von Veränderung.
Sie sprechen von einer allgemeinen „Veränderungserschöpfung“.
Vielen fehlen die Ressourcen, um sich auf Veränderungen einzustellen. Wenn ich drei Fremdsprachen spreche, feiere ich die Globalisierung natürlich. Und Nachhaltigkeit wird zum Gewinn, auch im gesellschaftlichen Ansehen, wenn ich es mir leisten kann, ökologisch zu konsumieren. Diese Erschöpfung äußert sich übrigens auch in den Berufskontexten: Personen in unteren sozialen Positionen sind in ihrem beruflichen Umfeld häufiger eingezwängt, also eher Befehlsempfänger. Die leben die Autonomie, die auf der Arbeit fehlt, dann eben privat aus, auf der Autobahn oder am Grill. Sie wollen sich nicht bevormunden lassen.
Steffen Mau beobachtet einen „Allmählichkeitsschaden“. Der nächste Begriff, den er klug entliehen hat: So bezeichnen Versicherungen Schäden, die über einen längeren Zeitraum entstehen und unbemerkt bleiben. Und wenn man sie bemerkt, ist es sehr schwer, sie zu beheben, manchmal unmöglich. So ist es laut Mau auch in der politischen Kultur: Die Debatte verschleißt, das Vertrauen in Institutionen wie Politik, Wissenschaft und öffentlich-rechtliche Medien bröckelt. Durch viele kleine Grenzüberschreitungen, die für sich genommen unbedeutend wirken, aber in Summe die offene, pluralistische Gesellschaft beschädigen.
Nachdem im Frühjahr ein geheimes Treffen von Rechtsextremen in Potsdam bekannt wurde, an dem auch Abgeordnete der AfD teilgenommen hatten, sind Millionen Deutsche auf die Straße gegangen. Waren die Enthüllungen um das Geheimtreffen und der Begriff „Remigration“ Triggerpunkte?
Ich denke schon. Millionen hatten das Gefühl, dass da eine Grenze überschritten wurde, und gingen demonstrieren. Eine gesellschaftliche Immunreaktion. Daran zeigt sich, dass Triggerpunkte positiv wirken können: Indem die Menschen für die offene Gesellschaft auf die Straße gingen, haben sie Veränderung mitgestaltet, statt sie zu erleiden. Diese Selbstwirksamkeit ist zentral, um mit Wandel umgehen zu können.
„Manche leben die Autonomie, die ihnen im Arbeitskontext fehlt, eben privat aus, auf der Autobahn oder am Grill. Sie wollen sich nichts vorschreiben lassen“
Nun finden nicht ständig und überall Demos statt. Die sozialen Medien befeuern Polarisierungsempfinden und Ohnmacht oft. Welche Streitorte bleiben, um zu „enttriggern“, um konstruktiver zu streiten?
Ich bin für Lesungen häufiger in Bibliotheken unterwegs, auch in Plattenbausiedlungen. Da kommen die Leute unvoreingenommen. Der direkte Austausch ermöglicht viel mehr Sachlichkeit als die sozialen Medien. Früher waren auch die Kirchen, Gewerkschaften und Volksparteien Orte der Selbstwirksamkeit und Verständigung. Nur haben die enorm an Mitgliedern und Vertrauen verloren. An ihrer Stelle stehen heute Netzwerke, Vereine und Initiativen, die weit weniger mächtig und schwerer zu greifen sind. Spannend fand ich zuletzt die Zusammenarbeit von Fridays for Future mit der Gewerkschaft ver.di.
Die gemeinsam für die Mobilitätswende lobbyieren.
Weil die, wenn man sie richtig gestaltet, fürs Klima und die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Nahverkehr gut wäre. Das ist ein gutes Beispiel für eine Allianz unterschiedlicher ökonomischer Gruppen. Da gibt es ein Mobilisierungspotenzial, das bislang brachliegt.
Als Makrosoziologe leben Sie von der Draufsicht, kreisen ein wenig über dem Geschehen. Was triggert Sie?
Wenn ich das Gefühl habe, Leute drücken bewusst Triggerpunkte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Steffen Mau, 55, ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Einige halten ihn für den einflussreichsten Soziologen Deutschlands. Der mit den griffigsten Metaphern ist er sicher: Mau spricht von Kamelgesellschaften, sozialen Frakturen, Veränderungserschöpfungen – und von seiner Arbeit als „Mythenjagd“.
Fotos: Etsuo Hara / Getty Images