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Wo komme ich her und wie komme ich hier raus?

In Stephen Buoros wunderbaren Roman „Andy Africa“ geht es um Superhelden, die erste Liebe und die Identitätsfragen Nigerias

  • 6 Min.
Nigeria, Kirche

Afrika ist eine Simulation. Zumindest für Andrew Aziza, die Hauptfigur aus Stephen Buoros Roman. Dabei lebt Andy mittendrin. In Kontagora, einer kleinen Stadt im Süden Nigerias. Als Mitglied einer christlichen Minderheit in dieser weitgehend muslimischen Region. Andy ist Ministrant, aber an Gott zu glauben fällt dem 15-Jährigen schwerer, als sich vorzustellen, der gesamte Kontinent wäre das Produkt eines Supercomputers. Eine fiese Fiktion, ein Fluch, ein Spiel, in dem man nur verlieren kann. Aus seiner Sicht lebt er in einer Stadt, die zwischen zwei Stromausfällen existiert, wo die Straßen voller Schlaglöcher sind und die Krankenhäuser unterversorgt. Und so beschließt Andy, der erste afrikanische Superheld zu werden.

Doch worin besteht Andys Superkraft? Er ist nicht schneller als die anderen, nicht größer, nicht stärker. Er kann nicht fliegen. Aber er kann fliehen. In seine Innenwelt. In die Gedichte, die er schreibt, in die Gespräche mit seinem älteren Bruder, der bei der Geburt gestorben ist, aber in Andys Selbstgesprächen fortlebt.

Andys Flucht zu sich selbst

„Andy Africa“ ist eine Geschichte über Vertreibung: aus dem göttlichen Paradies, aus dem hassgeliebten Nigeria und aus der eigenen Kindheit. Es ist eine klassische Coming-of-Age-Story. Wo komme ich her und wie komme ich hier raus? Andys Fragen führen ihn in die unausgeleuchteten Winkel der eigenen Familiengeschichte. Wer ist sein Vater, und warum verweigert seine Mutter ihm den Kontakt? Auf Andys Flucht zu sich selbst wird er sie schmerzlich zurücklassen müssen, um eine Antwort zu finden. Und es wird nicht die sein, die er gesucht hat.

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Andy Africa
„Andy Africa“ von Stephen Buoro (aus dem Englischen übersetzt von Volker Oldenburg) ist im Rowohlt Verlag erschienen.

Stephen Buoro wurde 1993 in Nigeria geboren und hat im englischen Norwich Mathematik und Creative Writing studiert. „Andy Africa“ ist sein Debüt. Und was für eins. Aus guten Gründen hat sich die englische Verlagslandschaft um die Rechte für diesen Roman gerissen. Lange hat man nicht so eine waghalsige Konstruktion erlebt. So ein hellwaches Spiel mit dem Genre und den Vorurteilen seines Publikums. Im ersten Satz schon wendet sich Andy an eine weiße Leser:innenschaft, um klarzustellen, er stehe auf weiße Frauen – und nur auf weiße. Auf blonde mit Pferdeschwanz, um genau zu sein. Er wisse zwar nicht, wie blonde Frauen so seien, aber er habe sie in unzähligen Filmen aus Hollywood gesehen.

Ein geschicktes Manöver, wirft Buoro doch den exotisierenden Blick, mit dem Weiße auf afrikanische Länder zu schauen neigen, mit voller Wucht zurück. Aber in diesem Blick liegt für Andy auch etwas Selbstverletzendes: die Sehnsucht, selbst weiß sein zu wollen, wie Clark Kent, Peter Parker oder Neo aus „Matrix“, wie es an anderer Stelle heißt. Als wäre nicht das Fliegen oder Hochklettern an Wolkenkratzern die Superkraft dieser Figuren, sondern ihre Hautfarbe. Und tatsächlich zeigt sich die schier übermenschliche Anziehungskraft von weißer Haut auf Andy, als die platinblonde Eileen, die Nichte eines Priesters, zu Besuch aus Großbritannien in Kontagora auftaucht. 

So sind die Leser:innen von der ersten Seite an hellwach. Denn in diesem Roman ist sein eigener Abgrund immer anwesend. So tief die Vorurteile der Leser:innenschaft über dieses Land und seine Geschichte womöglich reichen, so spielerisch geht der Roman mit ihnen um. Als hätte Buoro ein schmales Brett über diesen Abgrund gelegt, über das er seine Figuren vorsichtig führt.

Dabei sind seine Figuren keine ausgereiften Charaktere, sondern Prototypen. Sie haben scharfe Konturen, aber sie bleiben zweidimensional. Wie Comiczeichnungen, um die man nicht herumgehen kann. Man darf das nicht als Schwäche dieses Romans verstehen, sondern als einen augenzwinkernden Umgang mit dem Authentizitätsanspruch an Literatur. Wenn Andy mit seinen beiden Freunden Slim und Morocca spricht, dann klingt das wie die Synchronfassung einer Hollywood-Highschool-Komödie: 

 „Was geht, Dawgs?“, sage ich.
„Alles cool, Mann“, sagt Slim.
„Sauhungrig“, gähnt Morocca. (…)
„Klar, was sonst“, lacht Slim.

Aber vielleicht liegt in der Beliebigkeit dieses Dialogs auch eine psychologische Genauigkeit. Die Beobachtung, dass wir im Erwachsenwerden nur über den Umweg der Anderen zu uns selbst finden. Wir sehen Andy mit seinen Freunden, seinen sogenannten Droogs, wie sie nach Sätzen suchen, die größer sind als sie. Wie Konfirmationsanzüge, in die sie noch reinwachsen müssen, ziehen sie sich die Sätze an.

Je näher sich Andy und Eileen kulturell kommen, desto mehr entfernen sie sich emotional voneinander

Auf wunderbare Weise verknüpft Stephen Buoro in „Andy Africa“ die Urfrage des Aufwachsens mit der Identitätsfrage Nigerias im Umgang mit seiner Kolonialgeschichte. Ein Land, das viele Länder ist, das über 500 Sprachen spricht, von denen Englisch nur eine ist. Tu das nicht, sagt Eileen, als Andys Englisch einmal zu sehr in ihr britisches Englisch kippt. Was nicht?, fragt Andy. Und Eileen lacht. Je näher sie sich kulturell kommen, desto mehr scheinen sie sich emotional voneinander zu entfernen. Sind sie doch mehr interessiert an der Andersartigkeit des Anderen als an dem Anderen selbst. Nähern sie sich an, verlieren sie den Reiz füreinander. Darin liegt eine der zynischen Pointen dieses Romans.

Die größte hebt sich Stephen Buoro aber bis zum bitteren Ende auf. Denn das schmale Brett, auf dem seine Figuren balancieren und auf das wir ihnen längst gefolgt sind, es biegt sich. Die waghalsige Konstruktion, die Buoro in schwindelerregender Diskurshöhe gebaut hat, droht einzustürzen unter dem Gewicht, das die Geschichte am Ende bekommt, als Andy mit seinen Droogs nichts anderes bleibt als die Flucht durch die Wüste nach Europa. Aber solange wir nicht runtergucken, stehen wir noch in der Luft. Wie im Comic. Als würde sich Andy Africa noch einmal an seine weißen Leser:innen wenden, um zu sagen, dass ihre Superkraft nicht in ihrer Hautfarbe besteht, sondern darin, sie nicht zu sehen: Wenn ihr nicht hinguckt, könnt ihr fliegen.

Titelbild: Didier Ruef/Redux/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.