Don’t smoke. Don’t drink. Don’t fuck. Was wie der Kodex für ein besonders moralisches Leben klingt, ist die Grundregel einer Punkbewegung. “Straight Edge“ nennt sich der Lebensstil, und die meisten der jugendlichen Anhänger/innen wollen mit Moral zunächst wenig zu tun haben. Sie haben einfach Besseres zu tun, als einen Vollrausch zu erleben.
Wenn Flint Stelter ein Hardcore-Konzert der Band Sirens besucht, geht es hart zur Sache. Auf der Tanzfläche prallen Oberkörper aufeinander, Fäuste und Beine schwingen durch die Luft. Hier und da sind Piercings und Buttons zu erkennen, nicht selten sind Arme und Oberkörper tätowiert. Fast ist es ein Wunder, dass beim Moshen niemand verletzt wird. Auf den ersten Blick wirkt die Veranstaltung wie eine Punk-Party, doch das geschulte Auge vermisst vor allem zwei Dinge: Alkohol und Zigaretten. Die meisten der anwesenden Hardcore-Fans feiern ohne Drogen. Und auch außerhalb von Konzertkellern rauchen sie nicht und rühren weder Schnaps noch Whiskey oder Bier an. Denn der 28 Jahre alte Flint Stelter, Mediengestalter aus Dortmund, und die meisten der anderen Konzertbesucher/innen gehören zum Kreis von Straight Edge.
Besserer Start in den Tag ohne Kater
Auf Deutsch bedeutet der Begriff, frei übersetzt, “unbedröhnter Weg“. Sind Hardcore-Fans, die so einen geraden Lebensweg einschlagen, besonders moralisch? Könnte man meinen. Doch die meisten von ihnen sind vor allem pragmatisch. So argumentiert auch Flint: “Mein Leben ist kurz genug und ich will noch viele Dinge erreichen“, sagt er. “Ich habe keine Zeit für Jägermeister und Co.!“ Wie die meisten Anhänger/innen der Bewegung möchte er aktiv etwas an der Welt verändern, sein Ding durchziehen, gute Ideen umsetzen – und hat deswegen keine Lust, vollgedröhnt und betrunken in einer Ecke zu liegen oder mit einem Kater am Morgen aufzuwachen.
Diese Überlegungen waren bereits Ende der 1970er-Jahre der Nährboden für die Straight-Edge-Bewegung, ihren Keim hatte sie aber in der amerikanischen Punk-Szene. Ein kleiner Haufen von Jugendlichen konnte mit dem Motto “No Future“ wenig anfangen. Also setzten sie ein Zeichen gegen destruktiven Drogenkonsum. Sie gründeten eigene Bands und griffen in ihren Songtexten die in der Szene verbreitete Lethargie scharf an. Das Ziel war immer, einen klaren Kopf zu behalten, um aktiv die eigene Umwelt prägen und zum Besseren verändern zu können.
Wenigstens denken können
“I'm a person just like you / but I've got better things to do than sit around and smoke dope”, sangen beispielsweise Minor Threat Anfang der 1980er-Jahre, oder “I don't even think about speed / that's something I just don't need”. Als Erkennungszeichen hat sich in der Szene das X etabliert – ursprünglich wurde damit der Handrücken minderjähriger Konzertbesucher markiert, mit schwarzem Edding, um zu verhindern, dass ihnen Alkohol ausgeschenkt wird. Ein Songtext des Musikers Ian McKaye sollte sich später zu einer Art Regelwerk der Straight-Edge-Bewegung etablieren: “Don't smoke. Don't drink. Don't fuck. At least I can fucking think.“
Keine Zigaretten also, kein Alkohol und auch kein Sex? “So ganz stimmt das nicht“, meint Flint. “Die Szene hat sich entwickelt – der Songtext war nie als Gesetz gedacht.“ Der Slogan “No Sex“ beispielsweise würde heute von den meisten als “sich nicht triebgesteuert verhalten“ interpretiert: Es geht nicht darum, auf Sex zu verzichten – aber ein Lebensstil, der vorwiegend auf One-Night-Stands ausgerichtet ist, wird abgelehnt. Doch die Szene hat sich auch neue Regeln geschaffen: So verzichten die meisten Straight Edger heute auf Fleisch und leben vegetarisch, oft sogar vegan. “Durch den Verzicht auf Alkohol und Zigaretten tue ich mir selbst etwas Gutes, durch den Verzicht auf Fleisch schütze ich andere Lebewesen“, findet Flint.
Straight Edge im Internet
Nach wie vor verbindend in der Straight-Edge-Bewegung ist die gemeinsame Vorstellung von einem “korrekten Lebensstil“ – genau genommen eine Art moralischer Anspruch. “Do it yourself“ – nimm es selbst in die Hand! Wer Teil einer Gesellschaft ist, soll diese selbst aktiv mitgestalten – anstatt mit Hilfe der berauschenden Effekte von Drogen den Problemen zu entfliehen. “Viele Straight Edger bringen eigene Fanzines heraus oder betreiben Internet-Portale“, erzählt Flint Stelter. “Andere organisieren Demonstrationen, Unterschriftenaktionen, Konzerte oder spielen selbst in Bands.“
In Deutschland wird die Zahl der Straight-Edge-Anhänger heute fünfstellig geschätzt, viele sind deutlich jünger als 20. Auch Flint Stelter ist bereits mit 17 Jahren straight edge geworden und hat schnell begonnen, selbstständig Projekte umzusetzen – unter anderem das Online-Portal poisonfree.com. Poisonfree soll demnächst ein Hardcore-Szeneportal für den Ruhrpott werden. Flints Hobbyprojekt ist heute eine Anlaufstelle für Straight Edger und Hardcore-Anhänger/innen aus der ganzen Welt – sie verzeichnet über sechs Millionen Klicks pro Monat und zählt damit zu den erfolgreichsten Webportalen in der Szene. Flint betreut das Projekt zusammen mit seinen Freunden/innen noch immer ehrenamtlich. Er ist sich sicher: Hier kann er seine Zeit sinnvoller investieren als bei einem Vollrausch.
Michael Metzger lebt und arbeitet als freier Journalist in Würzburg und ist in der Jugendpresse aktiv.