Jemima Sander (20): Auf jeden Fall brauchen wir einen Bildungskanon, weil er eine Art Kulturerbe ist. Was wir im Leistungskurs Deutsch gelesen haben, ist für mich deutsches Kulturgut. Da steckt unsere Geschichte drin. Und die Geschichte zeigt uns, wer wir sind. Deshalb müssen Schiller oder Goethe zur Allgemeinbildung gehören. Die sollte jeder in Deutschland mal gelesen haben.
Gianmarco Crapa (32): Das finde ich nicht. Allein deshalb, weil man sich fragen kann, ob wir mit Bildung wirklich Allgemeinbildung erreichen wollen, mit der man dann prahlen kann. Oder ob das Ziel von Schule nicht sein sollte, junge Menschen zu Mündigkeit und Toleranz zu erziehen, damit sie emanzipiert Entscheidungen treffen. Dafür braucht man Goethe nicht unbedingt. Es gibt einen zweiten Grund, warum ich den Bildungskanon kritisch sehe: Jemima, du sagst, Goethe und Schiller gehören dazu. Ich frage aber: Wer legt das überhaupt fest? Das sind doch immer die herrschenden Verhältnisse. Also vor allem alte, weiße, heterosexuelle Männer. Das Pluralistische, das unsere Gesellschaft ausmacht, ist im Bildungskanon nicht vertreten. Und da sind wir sofort in der Debatte, was „deutsches Kulturgut“ überhaupt ist.
„Ich finde es positiv, wenn die Schule auch Werke behandelt, die das Bildungsbürgertum nicht für Allgemeinbildung hält“
Für mich gehören Werke wie Goethes „Faust“ oder Schillers „Die Räuber“ dazu, weil es dafür gute Gründe gibt. Zum einen spiegeln sie den damaligen Zeitgeist wider. Wie haben die Menschen gedacht, wie gefühlt? Welche politische Haltung nahmen sie ein, zum Beispiel gegenüber dem NS-Regime? Letzteres erfährt man bei Brecht und anderen Vertretern der Exilliteratur. Zum anderen vermittelt große Literatur doch gerade Werte wie Mündigkeit und Toleranz, von der Sie, Herr Crapa, gerade gesprochen haben. Die Themen sind heute dieselben: Vernunft, Toleranz, Moral. Darum geht es auch bei der Black-Lives Matter-Debatte in den USA.
Aber diese Werte kommen ja nicht nur in Klassikern vor und sind nicht exklusiv an Literatur gebunden. Man kann sie zum Beispiel genauso gut im Rap finden – oder dort vielleicht gerade nicht. Genau damit könnte man sich auseinandersetzen. Ich finde es positiv, wenn in der Schule auch Werke behandelt werden, die das Bildungsbürgertum nicht als Allgemeinbildung etikettieren würde. Es ist nach wie vor die Ausnahme, dass im Unterricht auch mal die Geschichten der polnischen Immigrant*innen auftauchen oder andere Geschichten, die nicht typischer Mainstream sind.
Im Leistungskurs Deutsch haben wir uns ausführlich mit Poetry Slam und Rap beschäftigt. Wir wurden gefragt: Ist das Literatur? Was wird vermittelt? Und im letzten Semester ging es ausschließlich darum, wie Literatur im interkulturellen Kontext steht. Da haben wir zum Beispiel Gedichte von Migranten gelesen, die Rechtschreibfehler enthielten oder die gewohnten literarischen Formen verlassen haben. Ich erinnere mich an den Jugendroman „Tschick“. Der wird schon viel früher gelesen, in der achten Klasse. Aber was lernt man da? Wie man Autos klaut. Wie man raucht. Wie man betrunken in die Schule geht … Da frage ich mich schon: Was nimmt man von so einem Buch mit, wenn man 13 Jahre alt ist?
(Lacht) Ich finde, „Tschick“ lässt auch andere Schlüsse zu. Die Hauptfigur outet sich gegenüber seinem besten Freund als homosexuell. Dass er dort keine Ablehnung erfährt, sondern die Freundschaft wächst, ist eine wunderbare Geschichte für Toleranz, also im Grunde doch auch für die Werte der Aufklärung. Warum also nicht anhand eines Textes, der der Lebensrealität vieler Jugendlicher viel näher ist als beispielsweise „Faust“. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, welches Wissen und welche Fähigkeiten für unsere Schülerinnen und Schüler später relevant sein werden. Man kann nur prognostizieren, was im Leben einmal hilfreich sein kann.
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Wissen über den Klimawandel dürfte auch später für uns relevant sein.
Ja, der betrifft alle jungen Menschen. Und spätestens seit den Fridays-for-Future-Demonstrationen müsste auch allen Schulen klar sein, dass sich viele junge Menschen damit auseinandersetzen möchten. Sie politisieren sich und lernen, ihre Interessen in der Gesellschaft zu formulieren. Das finde ich toll! Auf Klimawissen können sich alle einigen, denke ich.
Okay, dann gehört das in den Bildungskanon. Aber muss man den Klimawandel unbedingt im Fach Deutsch behandeln? Oder nicht eher in Politik, Geschichte oder Ethik? Ich weiß, was ich später sicher brauchen werde: Sprache. Und die vermittelt doch die Literatur. Viele kritisieren, „Faust“ oder „Faust II“ seien zu schwer, zu unverständlich. Aber das ist doch eine wichtige Fähigkeit im Leben: dass man sich mit komplexen Themen und komplexer Sprache auseinandersetzen kann. Übrigens lässt sich auch im „Faust“ ganz viel aus der heutigen Zeit entdecken. Die Figur Faust hat alles, weiß alles. Aber sie will immer mehr. Das erinnert mich an die heutige Konsumgesellschaft: Wir alle wollen mehr, wir alle wollen besser sein. Es kommt darauf an, dass Schüler da auch frei interpretieren dürfen. Es darf kein Richtig oder Falsch geben.
Dein Argument finde ich spannend. „Faust“ kann man tatsächlich in ganz verschiedenen gesellschaftlichen oder politischen Kontexten lesen. Vielleicht sogar, dass im „Faust“ schon der deutsche „Weltmachtsanspruch“ angelegt ist. Du hast im „Faust“ die kapitalistische Konsumgesellschaft entdeckt, andere sehen das nicht. Da sind wir wieder bei der Frage, wer einen Kanon vorgibt und welche gesellschaftlichen Milieus dabei nicht berücksichtigt oder sogar ausgeschlossen werden. Dann besser gleich auf einen Kanon verzichten, der nur exklusiv sein kann.
Ich habe das nicht so wahrgenommen, dass sich jemand wegen der Auswahl der Literatur ausgeschlossen gefühlt hat. Was aber stimmt: Nicht alle können was mit Goethe oder Schiller anfangen, manche haben die Bücher ja nicht mal gelesen. Auch nicht im Leistungskurs Deutsch.
Collage: Renke Brandt