fluter.de: Warum seid ihr gegangen beziehungsweise geblieben?
Elisabeth: Ich habe nach der Schule eine Ausbildung zur Orthopädiemechanikerin bei einer lokalen Firma gemacht. Nun baue ich Prothesen in einem Bereich, in dem ich spezialisiert bin. Diese Abteilung gibt es in Deutschland nur selten. Einmal hatte ich bereits überlegt, die Firma zu wechseln, doch die wenigen Firmen, die in Erwägung kamen, waren mir zu weit weg von zu Hause. Denn meine Freunde und meine Familie in meiner Nähe zu haben ist mir wichtiger als der Job. Sollte er mir irgendwann nicht mehr gefallen, würde ich eher die Branche wechseln.
Lena: Ich wollte in erster Linie in die Stadt, um studieren zu können – deswegen bin ich nach Wien gezogen. Natürlich könnte ich als Grafikerin auch auf dem Land arbeiten, aber dann würde ich in Bereichen tätig sein, die mich nicht sonderlich interessieren. Zuletzt habe ich für ein Museum gearbeitet und dort Ausstellungsgrafiken und Bücher gestaltet. Das gäbe es bei uns auf dem Land nicht. Außerdem finde ich in der Stadt mehr kreativen Input und mehr Austausch mit anderen Künstler:innen.
Inwieweit spielen soziale Kontakte eine Rolle bei eurer Entscheidung?
Lena: Die meisten meiner Freund:innen sind wie ich zum Studieren in die Stadt gezogen, und nur ein paar wenige sind bisher wieder zurückgekommen. Dadurch dass meine Freund:innen sehr verstreut auf der Welt sind, sehen wir uns selten, aber telefonieren mehr. Wenn wir uns treffen, ist es dafür umso intensiver. In Wien habe ich mittlerweile ebenfalls meinen festen Freundeskreis. Für mich ist das der Idealzustand: ein Mix aus alten und jungen Freundschaften.
Elisabeth: Meine Freunde und ich sind hier in der Gegend wahnsinnig verwurzelt, und ich finde es schön, dass ich sie spontan auf einen Kaffee besuchen kann. Dadurch können wir alltägliche Kleinigkeiten wie zum Beispiel Probleme aus der Arbeit austauschen. Eine Freundin, die so etwas täglich mitbekommt, meldet mir das zurück und sagt vielleicht, ich solle etwas dagegen unternehmen. Sie hat alles mitbekommen und kann sich somit ein komplexeres Bild von der Situation machen. Mir persönlich sind lange Freundschaften extrem wichtig, dann kennt mich die Person in all meinen Lebensphasen und dadurch besser.
Welche kulturellen Angebote nutzt ihr in eurer Freizeit?
Elisabeth: Ich bin in der Dirndlschaft, in der wir gemeinnützig Projekte veranstalten. Dort unternehmen wir zum Beispiel Ausflüge mit Bewohnern aus dem Altenheim. Zudem bin ich beim Deutschen Alpenverein aktiv und schaue nach, ob die Hütten gepflegt aussehen, oder schraube bei der Technik zum Bouldern und Klettern mit. Meine Freunde und ich sind dabei, einen kulturellen, nachhaltigen und sozialen Verein in unserer Gegend zu etablieren. Wir sind der Meinung, dass es nicht genug Angebote gibt. Unser erstes Event war eine Kleidertauschparty.
Lena: Ich war mit 16 Jahren das erste Mal in einem Museum in Salzburg. Der geringe Zugang zu Kultur und Museen war für mich der Auslöser für meine Faszination an anderen Orten. Heute reizt mich vor allem die Auswahl an Veranstaltungen, Events, Lesungen und Performances in der Stadt. Da man mit dem Fahrrad sofort überall ist, braucht man kein Auto – das schätze ich. Dadurch bin ich spontaner und kann viel mehr an einem Tag unternehmen.
Stimmen die Klischees von der Anonymität in der Stadt beziehungsweise dem Sich-Kennen auf dem Land?
Lena: Inzwischen finde ich es süß, wenn ich zu Hause bin und die Leute mich grüßen, weil ich es nun aus der Ferne betrachte, so wie man sich im Urlaub auf die Mentalitäten vor Ort temporär einlässt. Es hat mich eingeengt, dass man mit jedem interagieren muss. Ich hatte das Gefühl, ich kann dort nicht ich selbst sein und sobald ich nicht mehr hier bin, reden sie über mich. Deswegen bin ich froh darüber, in Wien an einem Ort zu leben, an dem man anonymer ist. Die Umstellung von Land auf Stadt war am Anfang jedoch schwer. Alles ist lauter, schneller, stressiger. Ich fahre bis heute keine öffentlichen Verkehrsmittel, sondern nur Fahrrad. Dafür genieße ich es, ständig neue Leute kennenlernen zu können.
Elisabeth: Bei mir ist es genau das Gegenteil. Ich mag es, dass die Leute mich kennen. Das gibt mir Sicherheit, und ich fühle mich gleich wohler. Falls man wirklich einmal ein Problem hat, wird zusammengehalten. In der Stadt wäre ich nur eine Nummer, und der Nachbar nebenan weiß nichts über mich. Wäre ich dort krank, würde ich mich unter Tausenden von Leuten alleingelassen fühlen.
Der Chiemgau ist bekannt für seine Kurorte. Was genau hält einen an einem Urlaubsort, oder warum will man von hier weg?
Elisabeth: Die Möglichkeit zu haben, nach der Arbeit noch schnell in die Berge und an die Seen zu fahren, ist ein wichtiger Grund, warum ich hiergeblieben bin. Diese Dinge bringen mich runter und erden mich. Ich glaube, so geht es vielen Menschen in der Natur. Gleichzeitig habe ich auch Interesse am Rest der Welt. Durch meinen Job lässt sich das gut verbinden. Ich habe bereits drei Monate in Indien gearbeitet, und letztes sowie dieses Jahr war ich bei den Paralympics in Tokio und China dabei.
Lena: Zu Hause bei meinen Eltern fühlt es sich sofort nach Urlaub an. Der Puls auf dem Land ist ein ganz anderer als der in der Stadt. Nach ein paar Tagen fährt mein ganzes Betriebssystem runter. Dort hat man mehr Raum, frische Luft, und alles ist entschleunigt. Aber nach einer Woche kippt es meistens, und ich finde es anstrengend. Genauso wie mir die Umstellung vom Land auf die Stadt am Anfang schwergefallen ist, habe ich mich an den Puls der Stadt gewöhnt. Der ist jetzt mein gewohnter Rhythmus.
Könntet ihr euch vorstellen, in der Zukunft in die Stadt beziehungsweise aufs Land zu ziehen?
Elisabeth: Dieses Jahr werde ich für meinen Meister zehn Monate nach München ziehen. Da die Stadt nicht weit weg ist von meinem Zuhause, habe ich so die Möglichkeit, das Gelernte für den Meister bei Besuchen im Betrieb zu üben. Ich freue ich mich darauf, eine längere Zeit in der Großstadt zu wohnen und die Vielfalt der Stadt mit mehr Mobilität zu genießen. Gleichzeitig habe ich ein bisschen Angst davor, dass es mir zu viel werden könnte und dass das Leben in München weitaus teurer ist. Grundsätzlich sehe ich mich in der Zukunft weiterhin in unserer Gegend. Mit meinen Freunden habe ich letztens bei einem Spieleabend darüber Witze gemacht, dass wir noch mit 70 Jahren zusammensitzen und kniffeln. Das glaube ich wirklich. Die Leute mag ich einfach sehr gerne, die möchte ich ein Leben lang um mich haben.
Lena: Was die Zukunft angeht, bin ich mir noch unsicher. Ich habe ein paar Freund:innen, die auf dem Land geblieben sind. Die haben schon Kinder und eine Wohnung oder bauen gerade ein Haus. Es ist ein anderer Lebensstil als meiner, den ich aber ebenfalls cool finde. Schließlich bin ich auch so sozialisiert worden, dass man all diese Dinge mit 26 Jahren haben sollte. Da ich offensichtlich all das gerade nicht mache, fällt es mir manchmal schwer, mich davon zu distanzieren. Gleichzeitig bin ich das nicht und könnte das noch nicht. Ich frage mich beispielsweise, ob ich später wirklich all den Raum brauche. Und ob es für Kinder vielleicht cooler ist, in der Stadt aufzuwachsen. Ich kann mir theoretisch vorstellen, dass man es dort leichter hat, sich frei zu orientieren.
Titelbild und Porträt-Collagen: Renke Brandt