Im Trailer zur VR-Erfahrung „Witness Auschwitz“ zwitschern zunächst die Vögel und die Sonne scheint. Auf den Bahngleisen, die zum Tor des Vernichtungslagers führen, liegt eine alte Ledertasche, die offenbar einem gewissen David Cohen gehört. Kaum ergreift man die Tasche, wird es düster, die Nacht bricht herein, und es fängt an zu schneien. Es ertönen Sirenen, Hunde bellen, und eine Stimme brüllt: „Runter vom Zug!“
Das Versprechen von VR: eine Situation nicht nur beobachten, sondern Teil von ihr sein
„Witness Auschwitz“, so das Versprechen des Trailers, katapultiert die Nutzer in die Vergangenheit, an einen Ort, der wie kein anderer sinnbildlich für das Leid steht, das Menschen anderen Menschen antun – an jenen Ort, an dem über eine Million Menschen ermordet wurden. Der kurze Clip des italienischen Studios 101% zeigt das Geschehen aus der Ego-Perspektive.
Genau das ist das große Versprechen der virtuellen Realität: dass man nicht mehr via Bildschirm auf eine Situation blickt, sondern Teil von ihr wird. Sobald sich der Nutzer eine der Hightech-Brillen überstreift, soll er alles um sich herum vergessen. „Immersion“ nennen das die Fachleute.
Die Macher wollen den Horror des Vernichtungslagers nachfolgenden Generationen hautnah vermitteln
Um das virtuelle Vernichtungslager möglichst authentisch nachzubauen, haben die Macher Fotos und Baupläne studiert und auch mit Überlebenden gesprochen. Bücher und Filme würden nicht reichen, um nachvollziehen zu können, was Auschwitz gewesen ist, so die Entwickler, die auch von der Union italienisch-jüdischer Communitys unterstützt werden. Die Gedenkstätte Auschwitz dagegen kritisiert, dass das Projekt eine Grenze überschreite. Ein Mensch solle nicht mithilfe von Virtual Reality dazu verleitet werden, „das zu fühlen, was Opfer gefühlt haben“, erklärte das Museum auf Twitter.
Darf man das größte Konzentrationslager, das Symbol der Shoa, in eine VR-Erfahrung verwandeln? Wird sie dadurch banalisiert? Wie sehr ist die Technik überhaupt dazu geeignet, empfindliche Inhalte zu transportieren?
VR kann simulieren, farbenblind, in ein Gefängnis gesperrt oder Opfer eines wütenden Mobs zu sein
„Prinzipiell ist es eine gute Idee, Virtual Reality zu nutzen, um Personen in Situationen zu versetzen, die sie anderweitig nicht wahrnehmen können“, sagt der Medienethiker Thilo Hagendorff, der an der Universität Tübingen unter anderem dazu forscht. Per Virtual Reality kann man sich schon heute auf dem Meeresboden umsehen, im Weltall oder in der Zelle von Al Capone auf Alcatraz. Chris Milk, der früher einmal Musikvideos für Kanye West, U2 und Green Day gedreht hat, entführte den Zuseher per 360-Grad-Video 2015 in das jordanische Flüchtlingslager Zaatari und stellte im Zuge dessen die These auf, dass Virtual Reality die ultimative Empathiemaschine sei.
Mittlerweile gibt es VR-Erfahrungen, in denen der Nutzer in die Rolle einer schwangeren Frau schlüpft und auf dem Weg in eine Klinik für Schwangerschaftsabbrüche an einem Mob sogenannter „Lebensschützer“ vorbeimuss. Es gibt VR-Modelle, die simulieren, farbenblind zu sein oder die Welt als Bettler vom Straßenrand aus wahrzunehmen. Die Tierrechtsorganisation Animal Equality hat mit „iAnimal“ eine VR-Erfahrung programmieren lassen, die den Nutzer in den Körper eines Tieres in der Milchindustrie schlüpfen lässt. Die Aktivisten berichten, dass sich viele Menschen nach dieser Erfahrung dazu entscheiden, künftig auf Tierprodukte zu verzichten.
Doch die neue Empathiemaschine hat auch ihre Grenzen: „Virtual Reality zielt vor allem auf die Emotionen ab“, sagt Thilo Hagendorff, „man darf aber nicht vorgeben, dass es mittels VR möglich ist, wirklich nachzuvollziehen, wie es ist, beispielsweise ein Obdachloser zu sein.“ Eine Erkenntnis, die einer australischen Wohltätigkeitsorganisation wohl zu spät gekommen ist: Bei einer Spendengala setzten die Organisatoren betuchten CEOs VR-Brillen auf. Die Manager sollten begreifen, wie es ist, kein Dach über dem Kopf zu haben. Es folgte ein kleiner Shitstorm, „virtueller Elendstourismus“, so lautete einer der Vorwürfe.
Die Nutzer sollen in virtuelle KZ-Kleidung schlüpfen und animierte Gräber ausheben
Ein ähnliches Problem zeigt sich auch bei „Witness Auschwitz“. Die Macher belassen es nicht dabei, Auschwitz nachzubauen, um sich virtuell darin umzusehen und ein Gefühl für den Aufbau und die Dimensionen der Vernichtungsmaschinerie zu bekommen. Darauf hat sich zum Beispiel der WDR mit seiner Virtual-Reality-Dokumentation „Inside Auschwitz“ beschränkt, in der die Geschichte dreier Überlebender erzählt wird.
„Bei einer VR-Experience gibt es immer die Möglichkeit, die Brille abzusetzen“
Die Entwickler von „Witness Auschwitz“ wollen, dass der User in virtuelle KZ-Kleidung schlüpft und mit einer animierten Schaufel Gräber aushebt. Das Ganze wird als „Experience“ vermarktet, bei der man als Zeuge und Protagonist ganz nah dran ist am industriellen Völkermord.
Aus Perspektive der Geschichtsdidaktik und des immer wieder neu diskutierten Beutelsbacher Konsenses, der in den 1970er-Jahren formuliert wurde und Leitgedanken für die politische Bildung formuliert, könnte damit jedoch eine Grenze überschritten werden: Demzufolge darf, wer historische Vorgänge nachvollziehen will, von Bildungsangeboten nicht mit Emotionen überwältigt werden. Eine starke psychische Erfahrung hindere daran, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Verständnis historischer Zusammenhänge solle deshalb immer an erster Stelle stehen.
„...schon alleine deswegen kann man nicht ansatzweise nachvollziehen, wie es ist, damals in Auschwitz gewesen zu sein“
Ganz davon abgesehen, dass Erlebnisse in der virtuellen Realität möglicherweise Traumata auslösen können – das von „Witness Auschwitz“ gesetzte Ziel überspannt die Fähigkeiten des Mediums, findet Thilo Hagendorff: „Bei einer VR-Experience gibt es immer die Möglichkeit, die Brille abzusetzen, schon alleine deswegen kann man nicht ansatzweise nachvollziehen, wie es ist, damals in Auschwitz gewesen zu sein.“ „Witness Auschwitz“ könnte so zum Gegenteil dessen beitragen, was es erreichen möchte – nämlich die Realität und das Ausmaß der nationalsozialistischen Mordmaschinerie fassbar zu machen.
VR könnte den Geschichtsunterricht revolutionieren – den Besuch einer Gedenkstätte ersetzt sie aber nicht
Dabei würde die neue Technologie tatsächlich die Möglichkeit bieten, der jungen Generation die Shoa ein Stück weit nahezubringen. Davon zumindest ist Hannes Liebrandt überzeugt, der an der Uni München Geschichtsdidaktik lehrt: „Man kann in der virtuellen Realität hautnah dabei sein und auch interaktiv werden, das ist der große Unterschied zu Filmen.“ Per VR-Erfahrungen wird man zudem bald von überall her Zugang zu digitaler Geschichte haben. Hannes Liebrandt glaubt, dass wir vielleicht sogar am Beginn einer regelrechten Bildungsrevolution stehen. In Zukunft könnten Schulklassen als Teil des Geschichtsunterrichts Konzentrationslager virtuell besuchen. Allerdings werden solche digitalen Erfahrungen den Besuch einer Gedenkstätte nicht ersetzen können. Hannes Liebrandt spricht von der „auratischen Wirkung“, die originale Schauplätze und Objekte besitzen und die in der virtuellen Realität verloren geht. Sie kann nur spüren, wer wirklich vor Ort ist – in der wirklichen, ganz realen Realität.
Christian Schiffer gibt ein Magazin für Gameskultur heraus, ist Autor und Moderator für den Bayerischen Rundfunk. Für letzteren wagte er 2016 einen Selbstversuch: 24 Stunden in der virtuellen Realität verbringen. Am Ende sehnte er sich sehr nach menschlichen Gesichtern und dem Geruch sommerlicher Blumenwiesen
Titelbild: 101° Studios