Luftschutzbunker statt Shoppingmall, Taschenradio statt Smartphone, Evakuierungsübung statt Insta-Story – in Taiwan bereiten sich einige auf den Ernstfall vor: auf einen militärischen Angriff durch die Volksrepublik China, die Taiwan als Teil des eigenen Staatsgebiets sieht und damit droht, die Insel einzunehmen.

 

An einem sonnigen Sonntag sitzen über 60 Teilnehmende dicht gedrängt in einem Workshop der KUMA Academy, einer der größten Bevölkerungsschutz-Organisationen in Taiwan. Alle Teilnehmenden sind freiwillig da. Die Trainings der „Civil Defense“, also des Bevölkerungsschutzes, werden nicht staatlich organisiert, sondern von verschiedenen NGOs. Vor allem geht es um Überlebensfähigkeiten: Wie kommuniziert man seinen Standort, wenn das Internet ausgefallen ist? Wo findet man Schutz? Die Teilnehmenden legen sich gegenseitig Verbände an und lernen, Erste Hilfe zu leisten. Das Ziel der Bevölkerungsschutz-Organisationen: Jeder Mensch in Taiwan soll wissen, was im Kriegsfall zu tun ist. In einer der Einheiten geht es um die Lehren aus dem Widerstand der Ukraine gegen den Angriff Russlands.

Teil jeder guten Abwehr: Propaganda als solche erkennen

Puma Shen ist einer der Gründer der KUMA Academy. Bei seinen Trainings legt er besonderes Augenmerk auf Medienkompetenz. Erst vor kurzem warnten staatliche taiwanesische Stellen vor Fake News und Verschwörungserzählungen seitens Chinas. „Die chinesische Regierung will den Verteidigungswillen der Menschen schwächen und ihr Vertrauen in Taiwan und seine Verbündeten zerstören“, erklärt Puma Shen. Er ruft dazu auf, sich auf den Ernstfall vorzubereiten: „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass China in den nächsten Jahren Taiwan angreift.“

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Puma Shen (Foto: Thomas Maresca / picture alliance / newscom)
In Puma Shens Kursen sitzen aktuell eher wenige, die noch zur Schule gehen. Die meisten sind 30 oder älter (Foto: Thomas Maresca / picture alliance / newscom)

Shen steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. Einen Angriff Chinas in absehbarer Zeit halten knapp 40 Prozent der Bevölkerung für möglich. Auch Taiwans Regierung ist in den letzten Jahren immer wachsamer geworden: Ende Dezember letzten Jahres verkündete Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) die Verlängerung des Militärdienstes von vier Monaten auf ein Jahr. „Wer den Frieden wahren will, muss sich für den Krieg rüsten“, erklärte sie. Es ist auch ein Motto der KUMA Academy.

Die meisten Teilnehmenden von Pumas Trainings sind 30 oder älter. Manche treibt die Sorge um ihre Familie um, andere die Angst, ihre hart erkämpften Rechte und Freiheiten zu verlieren. Schüler*innen und Studierende sind bei den Trainings eher in der Minderheit, auch wenn die Mehrheit der Jungen chinakritisch ist. Sie sind aufgewachsen mit chinesischen Streamingdiensten und Plattformen wie BiliBili und TikTok, größtenteils aber noch nie selbst in China gewesen. Die meisten können sich ein Leben ohne demokratische Wahlen, Meinungsfreiheit und Co. nicht vorstellen. Dabei sind derartige Errungenschaften in Taiwan noch gar nicht so alt.

Taiwan eine Diktatur? Das hatten wir doch schon mal 

Nachdem Taiwan über Jahrtausende von Indigenen bewohnt wurde, brachte das damalige chinesische Kaiserreich es im 17. Jahrhundert unter seine Kontrolle. Ab 1895 wurde Taiwan dann für über 50 Jahre zu einer japanischen Kolonie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel die Insel wieder unter chinesische Verwaltung. Dann gewannen die Kommunist*innen dort unter Führung von Mao Zedong den Bürgerkrieg gegen die bisherige Regierung unter General Chiang Kai-shek. Er zog sich mit dem Rest seiner Truppen und Gefolgsleute nach Taiwan zurück. Damals rechneten viele damit, dass die kommunistische Volksrepublik China die Insel früher oder später zurückerobern würde. Doch Taiwan – offiziell Republik China genannt – hielt stand, auch mit Unterstützung der USA.

KUMA Academy (Foto: Thomas Maresca / picture alliance / newscom)
Nicht nur bei der Führerscheinprüfung hilfreich: Rautekgriff zur Rettung aus der Gefahrenzone (Foto: Thomas Maresca / picture alliance / newscom)

Bis vor gut 30 Jahren war Taiwan eine Militärdiktatur, angeführt von Chiang Kai-sheks nationalistischer Partei, der Kuomintang (KMT). Dann wurde Taiwan schrittweise zur Demokratie, und die Oppositionspartei DPP übernahm zum ersten Mal die Macht. In ihrer zweiten Amtsperiode regiert Präsidentin Tsai Ing-wen mittlerweile seit fast acht Jahren, pocht auf Taiwans faktische Unabhängigkeit und auf mehr Distanz gegenüber China. Die KMT sucht dagegen den Dialog mit der chinesischen Regierung. Deren Ziel ist es weiter, die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan zu erzwingen, wenn nötig auch mit Gewalt. Einen konkreten Zeitpunkt dafür hat Chinas Führung nie genannt, und niemand weiß sicher, ob und wann China tatsächlich angreifen wird.

Chinesische Kriegsschiffe patrouillieren und provozieren

Fakt ist: Die militärische Bedrohung wächst. Nachdem im August letzten Jahres die US-Politikerin Nancy Pelosi Taiwan besucht hatte, fuhr China im großen Stil Kriegsschiffe, Drohnen und U-Boote vor der Küste Taiwans auf. Anfang April dieses Jahres folgten weitere Militärübungen.

Als Ende 2022 in verschiedenen Städten Chinas vor allem junge Leute auf die Straße gingen, um gegen die harten Corona-Beschränkungen und für mehr politische Rechte zu protestieren, solidarisierten sich auch in Taiwan junge Menschen mit der Bewegung. Wie viele Demonstrant*innen in China hielten sie weiße Din-A4-Blätter hoch, ursprünglich ein Zeichen des Protests gegen die chinesische Zensur.

  

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Angelina links, Mitorganisatorin Jen rechts (Foto: Leonardo Pape)

Dieses Foto würde in China gelöscht werden: Angelina (links) hält als Protest gegen die chinesische Zensur ein leeres A4-Blatt in die Luft

(Foto: Leonardo Pape)

Angelina war eine der Initiatorinnen der Kundgebung: „Als die Demonstrationen in China anfingen, war mir sofort klar, dass ich ein Zeichen der Unterstützung senden wollte.“ Während ihrer Kindheit gingen Angelinas Eltern als Geschäftsleute nach China. So verbrachte sie ihre Grundschulzeit in Guangzhou im Süden der Volksrepublik. Mittlerweile ist sie 19 und längst zurück in Taiwan. Das Schicksal der Menschen in China geht ihr weiter nahe: „Egal wie viel Taiwan und China mittlerweile trennt, wir jungen Menschen haben alle den gleichen Wunsch nach Freiheit.“ Doch in Taiwan ist Angelina mit ihrer engen persönlichen Verbindung zu China eher die Ausnahme. Nur wenige zeigten sich von den Protesten dort wirklich bewegt, und zu der Demonstration in Taipeh kamen nur einige Dutzend Leute. Dennoch glaubt Angelina daran, dass Jugendliche in Taiwan und China sich weiter untereinander austauschen und vernetzen sollten. Die sozialen Medien sind für sie dabei das wichtigste Mittel.

Auch keine schlechte Taktik: wählen gehen

 

Weite Teile der DPP und viele Aktivist*innen in der „Civil Defense“ setzen dagegen weniger auf Austausch und noch weniger auf politische Verhandlungen mit Chinas Regierung. Für sie steht fest: Taiwan muss sich vor allem wappnen, alles andere ist zweitrangig.

Eines eint auf der Insel wiederum praktisch alle: die Hoffnung, weiter in Freiheit und in Frieden leben zu können. Die Entscheidung hierfür liegt vor allem in den Händen der Machthaber in Peking. Doch auch Taiwans Volk hat eine Wahl: Im Januar 2024 stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Angelina wird zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Sie hofft, dass es nicht das letzte Mal ist.

Titelbild: Thomas Maresca / picture alliance / newscom