Auch Ängste haben ihre Konjunkturen. Mal sind es Epidemien, was die Menschen am meisten fürchten, dann dreht der Wind der öffentlichen Wahrnehmung und die größte Sorge ist wieder die vor Unwettern. Oder vor Kriminalität. Oder vor Umweltgiften. Oder eben vor Terrorismus. Ein guter Weg, um sich von der Nervosität und Erregungsbereitschaft der medialen Öffentlichkeit nicht anstecken zu lassen, ist die Beschäftigung mit der statistischen Wahrscheinlichkeiten von Risiken. Professor Ortwin Renn von der Universität Stuttgart kennt sich damit besonders gut aus.
fluter.de: Nach dem Angriff auf die Redaktion der Pariser Satirezeitung „Charlie Hebdo“ geht in Europa die Angst vor Terroranschlägen um. Wie berechtigt ist sie statistisch gesehen?
Ortwin Renn: Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlages zu werden, in Europa nicht mal halb so hoch wie die, durch Pilzvergiftung zu sterben.
Warum gibt es dann so viele Debatten um Anti-Terror-Gesetze statt mehr Warnungen vor gefährlichen Fliegenpilzen?
Beim Terrorismus geht es nicht nur um Todesrisiken. Mit Terror werden auch symbolische Werte wie Freiheit und Toleranz angesprochen, er weckt Urängste und zeigt der Gesellschaft ihre Verwundbarkeit. Daher wiegen hier die Risiken in der öffentlichen Wahrnehmung mehr als in anderen Risikobereichen. Dennoch ist es sinnvoll, sich die Größenordnung immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Manche Kommentatoren sprechen bei Terror sogar von Krieg in Europa. Das ist angesichts der Zahlen schlichtweg absurd.
Sie beschäftigen sich ja als Risikoforscher mit den Ängsten der Menschen und stellen sie den statistischen Wahrscheinlichkeiten gegenüber. Gibt es etwas, wovor Sie selbst sich fürchten, obwohl Sie es eigentlich besser wissen müssten?
Ja. Wenn ich im Flugzeug sitze und es wackelt und die Anschnallzeichen erleuchten, geht mein Herz schon mal in die Hose. Ich weiß natürlich genau, dass sehr wenige Flugzeuge wegen Turbulenzen abstürzen und dass andere Verkehrsmittel sehr viel unsicherer sind. Aber das Wissen allein reicht eben nicht.
Flugangst ist dennoch ziemlich verbreitet. Warum macht Fliegen so viel mehr Angst als Autofahren?
Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger Faktor ist, ob ich das Gefühl habe, die Gefahren selber kontrollieren zu können. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, habe ich den Eindruck, mein Risiko eigenhändig zu steuern. Aber die Angst steigt schon, sobald man Beifahrer ist. Beim Fliegen muss man noch mehr Vertrauen delegieren, an den Piloten und seine Crew, deren Können man nicht einschätzen kann.
Sie sagen, wir fürchten uns ganz systematisch vor den falschen Dingen. Wovor haben wir zu Unrecht Angst, außer vor dem Fliegen und vor Terroranschlägen?
Umweltgefahren werden heute stark überschätzt. Wir fürchten uns vor Konservierungsstoffen in Lebensmitteln, vor Pestizidrückständen oder den Folgen der Gentechnik. Die statistischen Zahlen zeigen aber: Wenn überhaupt, werden davon nur wenige Menschen ernsthaft krank. Im Vergleich dazu gibt es andere Gefahren, die uns wesentlich stärker bedrohen.
Welche?
Es gibt vier große Volkskiller, die allein für rund zwei Drittel aller vorzeitigen Todesfälle verantwortlich sind. Das sind: Rauchen, zu viel Alkohol, zu wenig Bewegung und eine unausgewogene Ernährung. Diese Risiken unterschätzen wir ganz massiv, obwohl wir sie kennen.
Weil wir dabei wie beim Autofahren das Gefühl haben, die Dinge selbst zu kontrollieren?
Zum Teil. Aber uns bereitet auch das Denken in Wahrscheinlichkeiten große Probleme. Wenn ich eine bestimmte Menge Arsen zu mir nehme, bin ich sicher tot. Aber wie ist das beim Rauchen? Nicht jeder, der raucht, stirbt an Lungenkrebs. Und nicht jeder, der Lungenkrebs bekommt, hat vorher geraucht. Es gibt also immer einen 90-jährigen Kettenraucher ohne jede Beschwerden, der als Beispiel dafür herhalten kann, dass Rauchen angeblich doch gar nicht so gefährlich ist, wie behauptet wird. Es gibt immer Ausnahmen. Das macht die Einordnung dieser Risiken für den Einzelnen so kompliziert.
Was zeichnet die Dinge sonst aus, die wir zu Unrecht fürchten?
Generell fällt auf, dass wir künstliche und technische Risiken eher überschätzen und natürliche Gefahren eher unterschätzen. Das Fliegen zum Beispiel macht auch deswegen vielen Menschen Angst, weil es so weit von unserer naturgemäßen Fortbewegung entfernt scheint. Es ist kontraintuitiv, dass so ein schweres Ding in der Luft hängen kann. Die Natur wird idealisiert, auch bei der Ernährung. Dabei sterben mehr Menschen durch Salmonellen und Schimmelpilz als durch Pestizide in Lebensmitteln.
Wieso machen uns die künstlichen Gefahren so viel mehr Angst als die natürlichen?
Weil wir ihre Wirksamkeit so schlecht einstufen können und daher meistens auf die Einschätzungen Dritter angewiesen sind. Ist Gentechnik gefährlich? Das kann ich selbst nicht nachprüfen. Der Meinungsmarkt gibt mir ganz unterschiedliche Signale. Die einen warnen vor der Gentechnik, die anderen sagen: Ist alles kein Problem. Wenn ich nicht weiß, wie hoch ein Risiko ist, empfinde ich das als besonders angsteinflößend. Im Zweifel fürchten wir uns dann lieber ein wenig zu viel.
Lobbygruppen und Industriekonzerne dürften sich über Ihre Argumente freuen, wonach wir uns zu Unrecht vor Pestiziden und Zusatzstoffen in Lebensmitteln fürchten.
Das stimmt, die Gefahr sehe ich auch. Aber dass die Großkonzerne jetzt machen können, was sie wollen, wäre die völlig falsche Schlussfolgerung. Ich behaupte ja nicht, dass Pestizide im Essen kein Risiko darstellen. Die Gefahren sind zwar klein, aber wenn wir sie mit vertretbarem Aufwand reduzieren können, sollten wir das natürlich tun. Mir geht es eher um die Verhältnismäßigkeit: Wir sollten nicht mit viel Aufwand ein geringes Risiko um 0,01 Prozent reduzieren und ein anderes, viel gewichtigeres darüber völlig außer Acht lassen.
Ist es eigentlich schlimm, dass wir uns vor den falschen Dingen fürchten?
Es kommt darauf an, welche Ausweichstrategien wir entwickeln. Vor einigen Jahren zum Beispiel hat man in den baltischen Staaten erhöhte Quecksilberwerte in Fischen festgestellt. Was passierte? Die Menschen kauften statt Fisch fette Steaks und aßen die. Die falsche und unausgewogene Ernährung dürfte viel mehr Schaden angerichtet haben als das Quecksilber im Fisch. Und letztlich ist eine falsche Risikowahrnehmung kostspielig. Wenn wir viel Zeit und Geld einem Risiko widmen, das eher marginal ist, fehlen uns Zeit und Geld für die Risiken, die uns wirklich bedrohen.
Wo würden Sie umsteuern?
Ein Beispiel: Wir geben sehr viel Geld für Kriminalitätsbekämpfung aus. Wir geben dagegen sehr wenig Geld für Suizidprävention aus. Dabei kommen durch Suizide zehnmal mehr Menschen ums Leben als durch Mord und Totschlag. Wenn man genug Geld hat, um beides zu bekämpfen – wunderbar. Aber wenn die Mittel knapp sind, würde ich sie eher in die Suizidprävention stecken.
Wenn man an einen Mord denkt, läuft einem ein Schauer über den Rücken. Sollten wir uns lieber an Statistiken orientieren statt an unseren Emotionen?
Statistiken können uns helfen, risikomündiger zu werden. Aber Statistiken können, wenn sie falsch präsentiert werden, auch selbst zu einer falschen Risikowahrnehmung beitragen.
Inwiefern?
Vor zehn Jahren geisterte die Meldung durch die englischen Zeitungen, wonach das Thromboserisiko durch die Minipille um 100 Prozent steigen würde. Das klingt dramatisch und hat dazu geführt, dass Tausende Mädchen die Minipille abgesetzt haben. In England kam es daraufhin zu 70.000 zusätzlichen ungewollten Schwangerschaften, es gab mehr Abtreibungen, und einige Frauen sind durch die Komplikationen während des Eingriffs auch gestorben. Was war passiert? Ohne die Pille bekommen 2,3 von 10.000 Frauen eine Thrombose, eine neue Studie hatte gezeigt, dass von 10.000 Frauen, die die Pille nehmen, 4,6 eine Thrombose bekommen. Das sind zwar doppelt so viele, aber die tatsächlichen Relationen sind sehr klein. Erst hatten wir eine Nadel im Heuhaufen, jetzt haben wir zwei Nadeln im Heuhaufen. Prozentwerte signalisieren schnell eine große Gefahr, auch wenn die absoluten Risiken verschwindend gering sind.
Professor Ortwin Renn ist Soziologe, Volkswirt und Nachhaltigkeitswissenschaftler. Am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart hat er den Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie inne. Dem allgemein interessierten Publikum hat er seine Erkenntnisse zur Risikoforschung in dem Buch „Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem falschen fürchten“ dargelegt.
Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die „Zeit“, „Neon“ und die „taz“. Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft.