Wenn Anita nicht putzte, die Rinder fütterte oder für ihr Lehramtsstudium lernte, war sie auf TikTok unterwegs. „Ich war das berühmteste Mädchen der Meena-Gemeinschaft, unser erster TikTok-Star“, sagt sie am Telefon. Anita gehört zu einem der ältesten Stammesvölker Rajasthans im Nordwesten Indiens. Meena arbeiten traditionell in der Landwirtschaft, viele Frauen müssen sich mit einer starren patriarchalen Ordnung auseinandersetzen. Dass Anita studieren darf, ist nicht selbstverständlich; dass sie hüftschwingend im Internet zu sehen ist, erst recht nicht. Mit ihren mehr als 300 Tanzvideos und über 100.000 Follower*innen stieß sie auf Empörung. Ihre Eltern bekamen Anrufe von Verwandten und Nachbarn, die Videos würden die Ehre ihrer Gemeinschaft verletzen. Ihre Mutter forderte, dass sie wenigstens ihr Gesicht bedecken solle, wie es Frauen in ländlichen Gebieten in der Öffentlichkeit tun würden. Das kam für Anita jedoch nicht infrage: Mit TikTok wollte sie sich ja gerade von der Tradition befreien. Also antwortete sie: Wir können unsere Frauen nicht ausbilden und gleichzeitig hinter einem Schleier verstecken.
Jeder vierte TikToker weltweit kam aus Indien
Seit über zwei Monaten ist Anitas Account und der von weiteren rund 200 Millionen indischen Nutzer*innen nun eingefroren. Jeder vierte TikToker weltweit kam bis dato aus dem südasiatischen Land. Von einem auf den anderen Tag verbot die indische Regierung am 29. Juni die App. Neben TikTok wurden seither Dutzende weitere chinesische Anwendungen gesperrt. Im April 2019 hatte die indische Regierung die App zum ersten Mal übergangsweise blockiert, weil sie unter anderem Kinderpornografie verbreitet haben soll. Junge Nutzer hatten Videos von Gewalt gepostet, von Säureattacken bis hin zum Selbstmord. TikTok entfernte sechs Millionen Videos und wurde wieder freigeschaltet.
Die unterste Kaste der sozialen Medien: So nannten YouTuber ihre Kolleginnen von TikTok. Anita macht seit dem Verbot auf der Videoplattform weiter – und verdient damit sogar Geld
Warum verbannte man die App nun für immer? An der Grenze zu China, im Norden des Landes, waren Mitte Juni bei Auseinandersetzungen zwischen Streitkräften 20 indische Soldaten gestorben. Zwei Wochen nach der Konfrontation mit China wurde das Verbot auch als Racheakt wahrgenommen. Doch als Gründe gab man von offizieller Seite Datenschutzbedenken und Angst um die innere nationale Sicherheit an. Ähnlich argumentiert derzeit auch US-Präsident Trump, wenn er ein Verbot der App fordert. TikToker*innen wie Anita gerieten damit ins Fahrwasser eines internationalen Konflikts.
Die App gab Menschen eine globale öffentliche Plattform, denen der Zugang sonst versperrt war. Inderinnen tanzten gegen die patriarchale Gesellschaft an, ein Schafhirte begeisterte Hunderttausende mit seinem Gesang, die Tanzvideos des Tagelöhners Arman Rathod wurden in weiten Teilen des Landes berühmt. Sieben Millionen Follower hatte er gesammelt, musste längst keine Autos mehr putzen. Indische YouTuber*innen hingegen verachten TikTok-Stars und nennen sie die „shudras of internet“ – die unterste Kaste der sozialen Medien. Es ist in Indien besonders schwer, in der sozialen Hierarchie des Landes aufzusteigen. Auf TikTok waren viele Menschen plötzlich sichtbarer als je zuvor und erfuhren Anerkennung.
„Wer in der Gesellschaft nicht angenommen wird, wurde auf TikTok akzeptiert“
„Auf anderen Plattformen begegnet mir Hass, Leute machten sich über mein Aussehen lustig, kommentierten mein Gewicht oder meinen Akzent“, erzählt Sangeeta Jain, die seit ihrer Kindheit im Rollstuhl sitzt. Die Juristin wollte immer Schauspielerin werden, ein bisher unerfüllter Traum. Auf TikTok gingen ihre Videos über Nacht viral. Unter dem Namen Geet brachte sie anderen Englisch bei oder hielt Ansprachen. Mehr als zehn Millionen Menschen folgten ihr. „Wer in der Gesellschaft nicht angenommen wird“, sagt Jain, „wurde auf TikTok akzeptiert.“
Andere Konzerne haben auch schöne Plattformen: Sangeeta konzentriert sich heute auf Instagram und Youtube
Den großen Erfolg in Indien verdankte die Plattform seiner Inklusivität, die kein anderes soziales Netzwerk bisher herstellen konnte. Nutzer*innen mussten kein Englisch oder Hindi beherrschen wie auf Facebook, sie brauchten keine Highend-Handykameras wie auf Instagram, die App lief auch mit langsamem Internet. Dass die Daten beim chinesischen Mutterkonzern von TikTok nicht ganz sicher sein könnten und der Algorithmus allzu gesteuert Inhalte auswählt, wurde immer wieder kritisiert, aber von den Usern in Kauf genommen.
Sorgen um Datenschutz und inhaltliche Einflussnahme hatten die wenigsten. Der Vorwurf: TikToks Algorithmus unterdrückt Videos mit kritischen politischen Inhalten, andere pusht er. Die Proteste in Hongkong, die medial um die Welt gingen, waren auf TikTok so gut wie unsichtbar. Der „Guardian“ zitierte geleakte Dokumente, die zeigten, dass politische Äußerungen zum Tiananmen-Massaker oder der Unabhängigkeit Tibets zensiert wurden. Zwar besteht das Unternehmen darauf, die Moderationsregeln seitdem angepasst zu haben. Recherchen von Netzpolitik.org aber zeigen, dass sich kaum etwas geändert hat.
Seit dem Verbot haben in Indien einige lokale Apps an Nutzer*innen gewonnen. Durchsetzen konnte sich bisher noch keine davon. Sangeeta Jain konzentriert sich zurzeit auf Instagram und YouTube und hofft noch immer, dass TikTok zurückkommt. Im Raum steht derzeit eine Übernahme durch einen indischen Konzern.
Anita Meena wartet nicht mehr darauf. Ein paar Wochen wusste sie nichts mit sich anzufangen. Dann konzentrierte sie sich ganz auf ihren YouTube-Kanal, mit dem sie heute Geld verdient: 225 Euro im Monat, für sie ein kleines Vermögen. Ihre Videos sind weniger spontan, länger und professioneller geworden, sie fährt dafür in ein Studio nach Jaipur, tanzt vor virtuell eingeblendeten Landschaften, manchmal mit anderen Frauen ihrer Gemeinschaft. Sie schreibt eigene Lieder und singt: über Liebe und Beziehung, über das Coronavirus und die Folgen in ihrem Land. Ein Mädchen, sagt sie, solle ihr Talent nicht verstecken.
Titelbild: NOAH SEELAM/AFP via Getty Images