Vor einem hölzernen Häuschen auf Rädern prangt neben der Tür ein Schild. Was im kleinsten Kaff und in der größten Stadt schier unmöglich scheint, steht hier, mitten in Berlin, schwarz auf weiß: 100-Euro-Wohnung. Mit 6,4 Quadratmeter Nutzfläche sei es die kleinste und günstigste Wohnung Deutschlands, heißt es da. Heizkosten und Internetanschluss inklusive. Dieses sogenannte „Tiny House“ soll die Grundbedürfnisse einer Person abdecken und ein Beitrag zur Diskussion um bezahlbaren Wohnraum sein. In einer Stadt, in der Wohnen immer teurer wird.
„Ich hatte einfach keine Lust mehr auf den absurden Wohnungsmarkt, der alle ausmisten will, die nicht genug Geld haben“
„Ich hatte einfach keine Lust mehr auf den absurden Wohnungsmarkt, der alle ausmisten will, die nicht genug Geld haben“, sagt der Künstler Apo Can Ericek. Er sitzt mit Turban und einer Tasse Kaffee auf einer kleinen Schlafcouch. Drei Leute können in seiner 100-Euro-Wohnung übernachten. Möglich machen das schnell wandelbare Multifunktionsbereiche und eine Deckenhöhe von 3,60 Meter. Das Bett kommt aus einer Galerie unter dem Dach. Und der Schreibtisch ist in den Boden der oberen Etage verwoben, direkt über einer Küchenzeile, die der 28-Jährige vor allem zum Kaffeekochen nutzt. Vieles, was er sonst in WG-Zimmern gemacht hat, hat er nun nach draußen verlegt.
Sein minimalistisches Leben begann im Oktober 2017. Der Architekt Van Bo Le-Mentzel hatte auf dem Bauhaus Campus in Berlin verschiedene Tiny Houses aufgestellt. Ericek war begeistert von der Idee und verkaufte seine ganzen Möbel. Nur mit Koffer und Rucksack zog er von seinem WG-Zimmer in das Tiny House. „So frei habe ich mich noch nie gefühlt“, erzählt Ericek. Seine 100-Euro-Wohnung steht mittlerweile in der „Tiny Town“ in Berlin. Hier, auf dem Vorplatz eines Kulturzentrums, hat Le-Mentzel für mehrere Wochen eingeladen: zur „offenen Werkstatt für eine offene Gesellschaft“. Danach ziehen die Minihäuser weiter. Sie wollen, so wie Nomaden, nicht sesshaft werden.
„Es geht darum, Wohnraum auf Plätzen in der Stadt zu schaffen, die sonst nicht genutzt werden“, sagt Le-Mentzel, während er an einem winzigen Tisch im „New Work Studio“ sitzt, eines der anderen Tiny Houses. Er sei ein „Tinymalist“, der ein räumliches Umdenken in der Gesellschaft anstoßen will. Warum müssen Büros aussehen wie Büros? Wie entsteht genug Wohnraum für die sozial Schwachen? Wie lässt sich die knappe Ressource Raum sinnvoller nutzen?
Ein Tiny House darf man nicht überall hinstellen – Grünflächen und Industriebrachen sind schon mal tabu
Auf diesen Fragen fußt auch die „Tinyhouse University“, die Le-Mentzel als gemeinnützigen Verein in Berlin ins Leben gerufen hat. Es ist ein Kollektiv aus Gestaltern, Aktivisten und Geflüchteten, das sich während der Migrationskrise 2015 zusammengefunden hat. Damals hatte Le-Mentzel eine mobile Notunterkunft entworfen. Winzig, aber wesentlich komfortabler als die üblichen Flüchtlingscontainer.
Es ist schwer, in Deutschland einen legalen Standort für die Tiny Houses zu finden. „Da es Tiny-Häuser hierzulande noch nicht so lange gibt, bewegen sich die rechtlichen Regelungen teilweise noch in Grauzonen“, erklärt Petra Rohland von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. „Als Wohnhaus kann das Tiny House nur aufgestellt werden, wenn es planungsrechtlich zulässig ist.“ Konkret bedeutet das, dass die Minihäuser nicht auf öffentlichen Grünflächen oder Industriebrachen stehen dürfen und ein Mindestabstand von fünf Metern zu Nachbargebäuden eingehalten werden muss.
Wie auch Le-Mentzel glaubt Ericek, dass Tiny Houses nicht für jeden gemacht sind. „Die meisten Passanten trauen sich nicht mal, in die Tiny Houses reinzugehen.“ Andere sind so begeistert, dass sie am liebsten eines der Häuser kaufen würden. Wer eins haben will, muss aber selbst Hand anlegen. Für 10.000 Euro, inklusive Material, kann man einen Workshop buchen und hat am Ende sein winziges Eigenheim auf Rädern. Laut Le-Menzel sind in den letzten zwei Jahren mehrere Dutzend Tiny Houses in Berlin entstanden.
Ist die Wohnungsnot in Deutschlands Großstädten gelöst, wenn jeder sich auf sechs Quadratmeter zurückzieht? Lässt sich hier ein würdiges Leben führen? Und was ist mit der Sicherheit, der Witterung, mit der Versorgung? Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen sieht Tiny Houses nicht als adäquates Mittel gegen den Wohnungsmangel. „Eine solche Wohnform kommt sicherlich nur für Menschen in Betracht, die diese Enge mögen, und auch nur für einen bestimmten Lebensabschnitt“, sagt Petra Rohland. Wohin die Reise für Ericek geht, möchte er sich offenhalten. „Genau das ist ja das Schöne an Tiny Houses. In einer normalen Wohnung ist man so festgefahren. Hier ist alles sehr beweglich.“ Dann macht er sich auf den Weg – zum nächsten Waschsalon. Wäsche waschen.
Fotos: Hahn&Hartung