Zehn Jahre nachdem beschlossen wurde, das albanische Dorf Theth vor dem Untergang zu bewahren, sitzt Ded Nika mit einer Gruppe von Wanderern am Gartentisch vor seinem Haus und schenkt selbst gebrannten Raki aus. Die Wanderer wollen zwei Nächte bleiben. Sie sind unterwegs auf dem Peaks of the Balkans, einem Wanderweg, der Albanien, das Kosovo und Montenegro verbindet. In Nikas Bauernhaus, hinter dem sich die dramatischen Felswände der albanischen Alpen erheben, werden sie in selbst gezimmerten Betten schlafen, den Raki trinken und sich von Nikas Frau Shpresa bekochen lassen. Sie werden die Bergkulissen bewundern, vielleicht im Garten und um die Felder spazieren, auf denen der Mais mannshoch wächst. Nur wenn sie fragen, wird ihnen Nika erzählen, dass sein idyllisches Dorf noch vor ein paar Jahren fast verlassen war, die jungen Männer nach Deutschland oder Italien gingen, die Alten nicht wussten, wovon sie leben sollten.
Ded Nika ist 48 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit dunklem Haar. Er hat vier Kinder, und auch seine Mutter Prena lebt mit im Haus. Sie ist die Matriarchin, die über vieles bestimmt. Prena hat sich damals, im Jahr 2011, gewehrt, als Ded vorschlug, das Haus umzubauen und Touristen zu beherbergen. Nicht, weil Prena keine Fremden wollte. Sondern weil man in Theth und in den anderen Dörfern in den albanischen Alpen kein Geld nimmt, wenn man jemandem ein Bett und Essen gibt.
Theth liegt, die Häuser weit verstreut, in einem engen, lang gezogenen Tal, das rundherum von Bergen umgeben ist und aus dem eine einzige Schotterstraße hinausführt. Erst am Ende des Dorfes kommt man an grüne Wiesen und bei Nikas Bauernhof vorbei. Kühe grasen, Ziegen laufen herum, im Gemüsegarten wachsen Bohnen, Tomaten, Paprika und Kräuter.
Vor dem Tourismus war Theth so gut wie verloren, nur sieben Familien lebten noch im Tal
Bis nach Tirana, die Hauptstadt des Landes, braucht man von Theth fünf Stunden. 370 Menschen leben im Dorf, verteilt auf ungefähr 25 Familien, und mit jedem Jahr werden es mehr. Fast alle, die vor Jahren auswanderten, weil sie ohne Perspektive waren, kommen zurück, bauen Häuser, Gästezimmer, Restaurants. Vor allem die Jungen.
Deshalb teilt man die Zeit in Theth ein in „vor dem Tourismus“ und „nach dem Tourismus“. Vor dem Tourismus war Theth so gut wie verloren. Sieben Familien lebten noch im Tal, gerade mal 100 Menschen. Es gab kein Krankenhaus, keine Ärzte, keinen Pastor, kein Telefon und auch sonst nichts, was das Leben erleichtert. Die Jungen waren fort, und auch die meisten Alten blieben höchstens bis zum Oktober, dann wurde die Straße bald durch den Schnee unpassierbar und sie zogen in kleine Zimmer in der Stadt Shkodra. Im Sommer lebten sie von dem, was in den Gärten und auf den kleinen Feldern wuchs, im Winter von Gelegenheitsjobs in der Stadt.
Pavlin Polia und sein Bruder Nard kamen aus Italien nach Theth zurück. Pavlin ist Mitte 30, sieht aus wie ein Berliner Hipster im Wollpullover. Nard ist 31 Jahre alt, trägt am liebsten Jogginghose und stets seine kleine Tochter auf dem Arm. Die Brüder verließen Theth Ende der 1990er-Jahre, arbeiteten in allen Jobs, die sich ihnen boten, und stellten schnell fest: Ein schönes Leben ist das nicht. „Wir waren immer die Albaner, die Kriminellen, die Ausländer.“ Als die Brüder hörten, dass Theth eine Zukunft hat, man dort wieder Geld verdienen kann, zögerten sie nicht, Italien zu verlassen. 2007 waren sie zurück in ihrem Heimatdorf und bauten mit eigenen Händen ein Gästehaus auf – heute das erste Haus am Platz. Es hat die Brüder vergleichsweise wohlhabend gemacht, und der Erfolg ist für sie eine Wohltat nach den vielen Gastarbeiter-Jahren. „Zurückzukommen war die beste Entscheidung unseres Lebens“, sagt Nard Polia.
Die Ära des Tourismus begann an einem Tag im Jahr 2006, als Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die fünf Jahre später mit zwei anderen Gesellschaften zur GIZ verschmelzen würde, ins Dorf kamen. Sie sagten, Theth könne bewahrt werden, die Leute sollten ihre Höfe und ihre Türen dem Tourismus öffnen. „Da haben wir erst mal gelacht“, erinnert sich Ded Nika. Denn die Höfe hatten ja keinerlei Komfort, keine Toiletten, keine Badezimmer, keinen Strom, kein fließendes Wasser. Unten, im Erdgeschoss, wohnten die Tiere, in den winzigen Zimmern darüber die Menschen.
Doch die Deutschen boten Unterstützung, Kredite, Expertise und brachten Wasserrohre und Sanitäranlagen. Die Frauen lernten, für Touristen zu kochen, der Deutsche Alpenverein bildete Bergführer für den Peaks of the Balkans aus. Der Wanderweg hat auch ein politisches Ziel: Frieden und Miteinander in die einstige Kriegsregion zu bringen. Erst nur von Westeuropäern genutzt, entdecken ihn auch immer mehr Einheimische. An Nikas Tisch sitzen nun im Sommer Wanderer aus dem Kosovo und Montenegro und erzählen sich von ihren Bergerlebnissen. „Der Krieg ist kein Thema mehr“, sagt Nika.
„Früher haben wir die Winter gefürchtet. Jetzt sind sie die schönste Zeit“
Nika und eine Handvoll andere Bauern folgten damals den Vorschlägen der GTZ. Bedingung für die 2.500 Euro, die jeder, der teilnahm, von der GTZ erhielt: Das Handwerkliche musste in Eigenleistung vollbracht werden. Nika baute Bäder und Zimmer, legte Wasserrohre und setzte Solarzellen aufs Dach.
Und tatsächlich kamen die Touristen, erst in kleiner, dann in immer größerer Zahl. 2016 übernachteten bereits 16.000 Menschen in Theth, viele Familien betreiben Gästehäuser als Haupterwerb. Das verändert das Dorf, und es gefällt nicht allen: Viele der alten Häuser verfallen, stattdessen werden Neubauten hochgezogen, um Touristen unterzubringen.
Seit zwei Jahren schon überwintern die Nikas in Theth. Die Vorräte im Keller reichen selbst für eine lange, schneereiche Zeit, und sie verdienen in der Saison genug, um danach keine Gelegenheitsjobs mehr annehmen zu müssen. „Früher haben wir die Winter gefürchtet. Jetzt sind sie die schönste Zeit“, sagt Ded Nika.
Viele der alten Häuser verfallen, stattdessen werden Neubauten hochgezogen, um Touristen unterzubringen
Der Tourismus hat das Leben in Theth komfortabler gemacht. Die Minibusse, die die Touristen aus der Stadt Shkodra abholen, sind auch für die Einheimischen ein erschwingliches Verkehrsmittel. Es gibt nun einen kleinen Laden, eine Krankenstation, eine Schule – und neuerdings auch eine Müllabfuhr. Einmal in der Woche kommt ein Wagen aus Shkodra den weiten Weg und entleert die Müllcontainer. Sogar recyceln wollen die Bewohner künftig.
Mit eigenen Händen und mit Geld aus der albanischen Diaspora wurde die Kirche renoviert, die während der sozialistischen Diktatur verfiel. Die Brüder Polia haben vor ein paar Wochen ein Kreuz aus LED-Leuchten auf ihrem Dach anbringen lassen, das nun bei Nacht weithin strahlt. Sie taten es im Namen ihrer Eltern, die während der Diktatur in den Stall gingen, um dort heimlich zu beten. Vielleicht taten sie es auch, um sich und dem Dorf zu zeigen, dass sie es zu etwas gebracht haben.
Natürlich hat der Tourismus nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen, sondern auch das ganze Leben im Tal verändert. Zwangsehen und Blutrache, meint Ded Nika, gehörten schon mehr oder weniger der Vergangenheit an. Seine Töchter seien emanzipiert, die eine wolle Bergführerin werden, die andere Betriebswirtschaft studieren.
„Wenn wir nicht auf Öko-Tourismus setzen, verlieren wir alles“
Das Gasthaus werde wohl sein Sohn übernehmen. Der freue sich, nicht in der Stadt leben zu müssen, und habe ganz eigene Vorstellungen für die Vermarktung, „Social Media und so einen Kram“.
Mit dem Geld ist laut einigen Einwohnern aber auch die Gier über Theth gekommen. Zu jenen, die deshalb vor einem weiteren Wachstum warnen, gehören auch die Polia-Brüder. Die Gästezahl sei erreicht, die das Tal verkraften kann, ohne seine Ursprünglichkeit zu verlieren. Sie ziehen sich damit die Wut jener zu, die mehr Gäste, mehr Zimmer, mehr Einnahmen wollen. „Wenn wir nicht auf Öko-Tourismus setzen und die Gäste fernhalten, die Vergnügen und Latte macchiato an jeder Ecke wollen, verlieren wir alles. Die Schönheit, die Natur, unsere Identität.“
Der größte Schrecken ist für Pavlin Polia die Ankündigung der Regierung, die Straße nach Theth zu asphaltieren und so auszubauen, dass sie auch im Winter befahrbar ist. „Dann ist Theth bald ein Ziel für Billiganbieter“, fürchtet Pavlin Polia. Auch Ded Nika will die asphaltierte Straße nicht. „Wir haben dem Tourismus zugestimmt, um das Tal für die Welt zu öffnen. Unser Leben soll er nicht kaputt machen.“