„Wie kann ich meine Brüste loswerden?“ Als Nele diese Frage bei Google eintippte, hatte sie schon eine längere Zeit des Leidens hinter sich. Obwohl es in der Schule gut lief und sie beliebt war, gab es viele traurige Momente – vor allem vor dem Spiegel: Mit 19 hasste sie ihre Brüste und ihre weiblichen Rundungen. Im Internet stieß sie schließlich auf den Begriff Transgender und entdeckte Gemeinsamkeiten zwischen sich und denen, die davon berichteten, im falschen Körper zu stecken. Von Selbstverletzungen war die Rede, von Suizidgedanken und Essstörungen. All das kannte Nele von sich selbst. Und dann las sie noch über eine sogenannte Mastektomie, die chirurgische Entfernung der Brust, die Transmänner unter bestimmten Voraussetzungen von der Krankenkasse bezahlt bekommen. Aber war sie das? Ein Transmann? Sollte auch sie ihren Körper verändern lassen?
Mit diesen Fragen ging Nele zu einem Therapeuten. „Er hat mich dann direkt als Transgender diagnostiziert“, erinnert sie sich. Nach einem halben Jahr in Therapie wurde ihr das männliche Geschlechtshormon Testosteron verschrieben. Schon nach kurzer Zeit wurde ihre Klitoris größer, dann die Stimme tiefer, das Becken schmaler und die Brüste kleiner. Statt langen blonden Haaren und Kleidern trug Nele jetzt eine Kurzhaarfrisur – und in der Unterhose eine Penisattrappe. Auch in ihrem Personalausweis vollzog sich die Veränderung von einer Frau zum Mann: Aus Nele wurde Peer.
Nele genoss es, von anderen nicht mehr als Frau angesehen zu werden. Kein Hinterherschauen mehr, kein Gegrapsche, auch im Beruf wurde sie plötzlich ernster genommen. „Als Frau bin ich das Mädchen, das als Hobby malt, als Mann bin ich ein professioneller Illustrator“, sagt sie.
Mithilfe einer Dating-App lernte sie den belgischen Transmann Elliot kennen. Die zwei trafen sich zum Kaffeetrinken, verstanden sich auf Anhieb gut und wurden ein Paar. Kurz darauf fand auch Neles lang ersehnte Brustentfernung statt. Für viele Transmenschen ist die Suche nach ihrem wahren Ich an diesem Punkt vorbei – nicht für Nele.
Mit Elliot führte sie weiterhin lange Gespräche über Menschen wie sie und die Art, wie sie von einem Großteil der Gesellschaft gesehen werden. Nele war der Überzeugung, im falschen Körper geboren zu sein, während Elliot glaubte, dass es nicht die Biologie, sondern die Gesellschaft ist, die einen Menschen zu einer Frau macht, zu einem Mann oder auch zu einer Transgender-Person. Dass es also nicht Neles Körper war, unter dem sie gelitten hatte, sondern das, was andere Menschen in diesem Körper gesehen hatten.
Tatsächlich fielen Nele die Blicke ein, die sie schon mit neun gespürt hatte, als sie in die Pubertät gekommen war und ihr Busen sich rasch entwickelte – weswegen sie nicht mehr mit freiem Oberkörper herumlaufen durfte. Die Art, wie die Jungs sie auf der Straße anschauten, hatte sich verändert, manche fassten sie sogar einfach an. „Plötzlich war ich nicht mehr ich, sondern sexy und wurde aufs Hübschsein reduziert“, sagt sie heute. Und dass der Wandel vom Kind zur Frau für sie gleichbedeutend gewesen sei mit dem Verlust von Freiheit und dem seltsamen Gefühl, zu einem Objekt degradiert zu werden.
Nicht mit dem Körper war was falsch, sondern mit der Gesellschaft
„Wir leben leider auch in der westlichen Welt immer noch in einer patriarchalischen Gesellschaft. Das kann dazu führen, dass Frauen denken: ‚Ich möchte auch ein Mann sein, damit ich Macht habe und nicht mehr diskriminiert werde‘“, sagt der Psychologe Jan İlhan Kızılhan, der die Abteilung Transkulturelle Psychosomatik der MediClin Klinik am Vogelsang in Donaueschingen leitet. War das auch bei Nele der Grund? Dass sie nicht vor ihrem weiblichen Körper wegrannte, sondern vor dem, was andere mit diesem Körper machten? Heute sieht sie es so.
Von Nele zu Peer zurück zu Nele. „Detransition“ heißt es, wenn sich Transgender-Personen entschließen, ihre Umwandlung wieder rückgängig zu machen. Seit einem Jahr definiert sich Nele wieder als Frau. Die Östrogene machen ihre Gesichtszüge weicher und ihre Hüften breiter, nur die tiefere Stimme wird für immer bleiben. Ihren damaligen Entschluss bereut sie nicht, auch wenn sie sich mit ihrem heutigen Wissen anders entschieden hätte. Und mit ihrer Mastektomie ist sie immer noch zufrieden, weil sie wegen ihrer Brust nicht mehr sexualisiert wird.
Nele glaubt, dass sie in der Zeit, als sie sich selbst verletzte und Suizidgedanken hatte, eigentlich gar nicht in der Lage war, eine derart weitreichende Entscheidung zu treffen. Psychologe Jan İlhan Kızılhan stimmt ihr zu: „Zuerst muss man die Störung behandeln und den Patienten stabilisieren. Dann kann man sehen, wie es weitergeht.“ Auch Andreas Steiert, Chirurg an der Meoclinic in Berlin, sagt: „Ich halte es für einen Kunstfehler, wenn man Patienten, die in einer Borderline-Symptomatik stecken, also in einer instabilen psychischen Situation, operiert.“
Neles Therapeut verfolgte damals den sogenannten affirmativen Ansatz, bei dem man davon ausgeht, dass durch die Transition Depressionen, Essstörungen und andere psychische Störungen weichen. Der Transformationswunsch wird dabei von Anfang an nicht hinterfragt oder beurteilt, sondern bejaht und unterstützt. Das soll den Leidensdruck der Patienten mindern. Darüber, ob Geschlechtsumwandlungen oft zu früh empfohlen werden, gibt es noch keine Studien. Fest steht aber, dass die Zahl der Behandlungen gestiegen ist – und auch die der Detransitionen.
Heute sieht sich Nele als Frau, weil es ihr biologisches Geschlecht ist, ohne daraus eine gesellschaftliche Rolle abzuleiten, die sie erfüllen muss. Sie hat ihre eigene Definition von Identität gefunden.
Fotos: privat
Anmerkung der Redaktion (07. Januar 2020)
Danke für die zahlreichen, zum Teil kritischen Rückmeldungen zu Neles Geschichte, auf die wir hier kurz eingehen wollen. Es ist in dieser Onlineversion weniger ersichtlich, aber der Artikel ist im Kontext des aktuellen fluter-Heftes zum Thema Wahrheiten erschienen. Wegen dieses Leitthemas hat die Redaktion entschieden, Neles Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen – und nicht etwa die Debatten um Detransition, das sogenannte Gatekeeping oder therapeutische Ansätze.
Hier wird auf begrenztem Platz ein Einzelfall geschildert, der in keinem Fall pauschal für alle trans* Menschen zu verstehen ist; es gibt viele Menschen, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Der Text vereinfacht an mancher Stelle bewusst, weil wir auch für jene schreiben wollen, die wenig Kontakt zu trans* Personen oder noch nie von einer Detransition gehört haben. Über die Vereinfachungen lässt sich ganz sicher streiten; wir wollen mit Neles Geschichte aber nicht für stärkeres Gatekeeping plädieren. Wir freuen uns, dass die Kritik unter dem Artikel einige Begriffe und Zusammenhänge noch mal reflektiert.
Statistisch hält sich der Artikel u.a. an die AWMF, die davon ausgeht, dass sich Zahlen zum Behandlungserfolg bei Geschlechtsdysphorie bislang höchstens schätzen und hochrechnen lassen. Die Zahl der Detransitionen ist gestiegen, scheint aber nach wie vor gering zu sein (Quellen u.a. hier). Weitere Studien laufen.