Kopfhörer legen die Umrisse einer Leiche nach

Partner in Crime?

True-Crime-Formate stehen seit Jahren in der Kritik, zu reißerisch und voyeuristisch zu sein. Zu Recht? Unsere Autorin hat sich bei einem Opferverband, einem Wissenschaftler und zwei Podcasterinnen umgehört

Text: Isabella Caldart
Thema: Kultur
27. Februar 2025

Gut zehn Jahre sind inzwischen vergangen, seit der US-Podcast „Serial“ das Schicksal des wahrscheinlich zu Unrecht wegen Mordes verurteilten Adnan Syeds nacherzählte und damit dem Genre True Crime weltweit zu neuer Popularität verhalf. „Mordlust“, „Mord auf Ex“, „Zeit Verbrechen“, „Weird Crimes“, „Unter Verdacht“, „Verbrechen von nebenan“ – auch in Deutschland gibt es mittlerweile unzählige Podcasts, die sich mit wahren Kriminalfällen auseinandersetzen. Dass sich Menschen dafür interessieren, was andere Menschen einander antun können, ist nicht neu. Der Begriff „True Crime“ als Genrebezeichnung kam zwar erst vor 100 Jahren auf („True Detective“, veröffentlicht von 1924 bis 1995, gilt als erstes True-Crime-Magazin in den USA). Aber die Massenverbreitung von Nacherzählungen wahrer Verbrechen geht bis zur Erfindung des Buchdrucks zurück. 

Heute, sagt Medienkulturwissenschaftler Jan Harms, der an der Berliner Universität der Künste zum Thema promoviert, sei True Crime „ein digitalkulturelles Phänomen, das sich nicht nur auf Podcasts beschränkt“. Tatsächlich gibt es auf dem True-Crime-Markt auch eine Vielzahl an Dokumentarfilmen, Serien und Magazinen. Es geht laut Harms außerdem nicht mehr nur darum, Kriminalfälle nacherzählt zu bekommen. Viele Menschen fänden sich auch online in Communitys zusammen, wo sie versuchten, eigene Nachforschungen zu betreiben.

Community für weibliche True-Crime-Fans

Auch die Tatsache, dass die Rezipient*innen von True Crime zu großen Teilen weiblich sind (je nach Quelle 60 bis über 90 Prozent der Hörer*innen), hat in Harms’ Augen mit dem Wunsch nach Gemeinschaft zu tun. „Die oft angeführte Begründung, weibliche Rezipientinnen wollten sich durch den Konsum von True-Crime-Formaten einen Wissensvorsprung verschaffen, falls sie selbst einmal Opfer werden, greift ein bisschen zu kurz“, erläutert er. „Viele suchen auch den Dialog, etwa um über die Unsicherheit weiblich gelesener Personen im öffentlichen Raum zu diskutieren. Es gibt hier also Ansätze für einen kritischen gesellschaftlichen Austausch.“

„Es ist kaum vorstellbar, dass True Crime in Ländern mit hoher Kriminalität wie in Mexiko oder El Salvador auf eine ähnliche Zustimmung stößt wie hierzulande“

Leonie Bartsch und Linn Schütze haben sich ebenfalls Gedanken gemacht, warum True Crime ausgerechnet bei Frauen so populär ist. Die beiden Journalistinnen hosten seit 2019 den Podcast „Mord auf Ex“, der laut eigenen Angaben bis zu fünf Millionen Hörer*innen monatlich erreicht. Sie glauben, dass die „Identifikation“, wie Bartsch es bezeichnet, durchaus eine Rolle spiele, also die Tatsache, „dass man weiß, uns könnte das auch passieren“. Diese Faszination reiche dabei viel weiter zurück als der moderne Hype. Schon Ende des 18. Jahrhunderts, als Frauen, die viel lasen, eine „Lesewut“ „diagnostiziert“ wurde, gehörten Krimis zu den populärsten Genres. „Diese Themen beinhalten viel, was auch Frauen sehr beschäftigt“, sagt Bartsch, „etwa Angst um die Liebsten, Angst um sich selbst.

Medienexperte Karsten Krogmann vom Weißen Ring, eine Organisation, die Opfer von Verbrechen und Gewalttaten unterstützt, beschreibt es so: Frauen seien wahrscheinlich stärker als Männer an Psychologie und Motiven menschlichen Handelns interessiert, was damit zusammenhängen könne, dass sie von bestimmten Gewaltdelikten häufiger betroffen und zugleich für das Leid von Opfern empfänglicher seien. Die Faszination sei aber auch ein Wohlstandsphänomen: Es sei kaum vorstellbar, dass True Crime in Ländern mit hoher Kriminalität wie in Mexiko oder El Salvador auf eine ähnliche Zustimmung stoße wie hierzulande.

Es gibt auch immer mehr Kritik an dem Genre

Je erfolgreicher True-Crime-Formate in den vergangenen Jahren wurden, umso kritischer wurden sie aber auch von vielen gesehen. Es gehe ihnen, so die Kritik, vor allem um ein sensationslüsternes Nacherzählen möglichst grausamer Verbrechen – ohne Rücksicht auf die Opfer und ihre Angehörigen. Entsprechend beanstandet der Weiße Ring das Genre. „Problematisch ist True Crime dann, wenn die Menschen, die von dem wahren Verbrechen betroffen sind, außen vor bleiben bei der Nacherzählung“, so Krogmann. „Wir hören immer wieder von Kriminalitätsopfern, dass sie völlig unvorbereitet beim Zeitunglesen oder Fernsehen auf ihren Fall gestoßen sind.“ Dadurch könne eine Retraumatisierung erfolgen. Und dann sei da natürlich noch die Gretchenfrage des ganzen Genres: Wie sensibel wird bei der Darstellung des Verbrechens vorgegangen? Krogmann findet klare Worte. „Wer ohne Einbindung der Betroffenen einen solchen True-Crime-Fall nacherzählt, vielleicht sogar aus rein kommerziellen Motiven, handelt rücksichtslos und begeht damit womöglich sogar eine Form der Körperverletzung.“

„Häusliche Gewalt, ein sehr weitverbreitetes Phänomen, kommt aber nur in 0,33 Prozent der Podcasts vor. Stattdessen beschäftigten sich drei Viertel der untersuchten Podcasts mit Mord und Totschlag“

Wie Harms ist auch er skeptisch, ob True Crime präventiv wirken kann, um aus „Fehlern“ von Betroffenen zu lernen oder gesellschaftlich-politische Missstände aufzudecken. Sein Beispiel: Häusliche Gewalt, ein sehr weitverbreitetes Phänomen, käme aber nur in 0,33 Prozent der Podcasts vor, die der Weiße Ring 2023 im Rahmen einer umfangreichen True-Crime-Studie untersucht hat. Stattdessen beschäftigten sich drei Viertel der untersuchten Podcasts mit Mord und Totschlag. Diese Verbrechen machten aber laut der Kriminalstatistik, die zum Zeitpunkt der Untersuchung aktuell war, nur 0,1 Prozent der erfassten Straftaten aus. „Werden diese kostengünstig und mit geringem Aufwand produziert“, betont Krogmann, „ist das ‚Ware Verbrechen‘ statt ‚Wahre Verbrechen‘.“

Bartsch und Schütze wiederum bemühen sich, wie sie sagen, trotz des reißerischen Titels ihres Podcasts um eine sachliche Darstellung der von ihnen behandelten Kriminalfälle. Da geht es sowohl um unbekannte Personen wie die Geschichte einer Frau, die sich nach jahrelangem Erleiden häuslicher Gewalt wehrte und ihren Ehemann ermordete, aber auch um Fälle, die international für Aufsehen gesorgt haben und/oder politisch relevant sind. Etwa die Lebensgeschichte eines Ex-Neonazis oder zwei Folgen über das Missbrauchssystem von Jeffrey Epstein. Bei der Themenwahl sind sie offen, denn: „Am Ende ist einfach alles True Crime“, sagt Bartsch. „Wenn man in der Geschichte zurückgeht, ist auch die Ermordung von Cäsar gewissermaßen True Crime. Und die Bibel ist voll davon.“

True-Crime sollte nicht nur Einzelfälle, sondern auch gesellschaftliche Missstände thematisieren 

Ihnen sei wichtig, anhand von Einzelfällen gesellschaftliche Missstände zu benennen. Um in ihrer Recherche so korrekt wie möglich zu sein, arbeiten inzwischen mehr als zehn Menschen für die Podcasterinnen, darunter Journalist*innen und Wissenschaftler*innen. Auch bei dem zu Beginn jeder Folge beschriebenen Kriminalfall, der sehr atmosphärisch geschildert ist, wollen sie korrekt bleiben. „Wir müssen den Opfern mitunter Fragen stellen wie: Kannst du die Farbe deiner Kinderzimmertapete beschreiben?“, erläutert Linn Schütze. „Dieses Setting braucht man, um eine Geschichte zu erzählen.“

Es hängt also vor allem von der Herangehensweise ab, ob True Crime gesellschaftlich aufklären kann oder nur sensationsheischend ist. Medienkulturwissenschaftler Jan Harms nennt den WDR-Podcast „Schwarz Rot Blut“ als Positivbeispiel, ein True-Crime-Format, das rassistische Gewalt in Deutschland thematisiert. Wichtig sei dabei, die Tat aus einer Essentialisierung herauszulösen und zu schauen, welche sozialen und kulturellen Faktoren dazu beigetragen haben, dass das Verbrechen überhaupt passieren konnte. Man könne also, so Harms, „die Popularität des Genres nutzen, um von Verbrechen zu erzählen, die sonst übersehen werden“. Und dabei nicht den Einfluss missachten, den True-Crime-Erzählungen haben, im Guten wie im Schlechten – denn ohne „Serial“ wäre Adnan Syeds wahrscheinlich nicht aus der Haft entlassen worden.

Titelbild: Philotheus Nisch