Kalter Wind weht durch die kargen Häuserschluchten in Downtown Washington. Weit und breit kein Verkehr, die Straßen sind so gut wie menschenleer – bis auf die mehreren Tausend Soldaten der Nationalgarde hinter Absperrungen und Stacheldrahtzäunen, die rund um das Weiße Haus patrouillieren. Das Kapitol, unweit von dort und Sitz des US-amerikanischen Kongresses, ist für den Tag von Joe Bidens Amtseinführung zu einer Festung ausgebaut worden.
Wer hier vor zwei Wochen, am Morgen des 6. Januar, als neutraler Beobachter unterwegs war, um Donald Trumps sogenannte „Save America“-Kundgebung zu verfolgen, und sich in den ersten zwei, drei Reihen direkt vor der Bühne wiederfand, wird sich vielleicht gefragt haben: Wie, bitte schön, sollte es hier denn gleich nicht knallen?
Trump & Söhne: Die Wut schüren
„Wir, das Volk, haben die Kontrolle über die Vereinigten Staaten“, sagte Trump-Beraterin Katrina Pierson an jenem Morgen auf der Bühne. Trumps Sohn Eric nimmt sich das Mikrofon: „Wir müssen noch heute zum Kapitol marschieren und uns für dieses Land erheben!“ Dann tritt Trumps ältester Sohn Donald Junior auf die Bühne. „Wenn ihr euch als Nullen und nicht als Helden entpuppt“, sagt er in Anspielung auf die mangelnde Loyalität der Republikaner, die gleichzeitig keine drei Kilometer entfernt dabei sind, das Wahlergebnis formal zu zertifizieren, „dann knöpfen wir uns euch vor und werden jede Menge Spaß dabei haben!“ Am Ende ist Donald Trump an der Reihe: „Wir marschieren zum Kapitol. Wir kämpfen bis zum Äußersten, und wenn ihr nicht bis zum Äußersten kämpft, wird euer Land zugrunde gehen!“
Kurz danach kippen die Absperrgitter vor dem Kapitol um wie Dominosteine, Scheiben klirren, Reizgas vernebelt den Vorplatz, Schlagstöcke schwingen durch die Luft, irgendwann fallen Schüsse. Der Sturm auf die heiligen Hallen der US-amerikanischen Demokratie durch einen aufgebrachten Mob aus Trump-Anhängern hat begonnen.
Was dort am 6. Januar am Kapitol in Washington genau passiert ist, wie geplant die Aktion war, wer sich mitreißen ließ, wer vorsätzlich handelte und welche Rolle die Sicherheitskräfte dabei spielten – diese Fragen werden in Bidens Amtszeit mit Sicherheit noch Untersuchungsausschüsse beschäftigen. Doch stellt sich jetzt schon die Frage: Was bleibt vom „Trumpismus“, wenn Joe Biden im Oval Office sitzt? Schließlich hat sich der scheidende Präsident mit seinen konfrontativen Wahlkampfauftritten, Tweets, Lügen und Verschwörungsmythen eine bedingungslos ergebene Anhängerschaft erschaffen – auch wenn ihn zunehmend Republikaner offen kritisieren.
Die Antwort hängt davon ab, wie aktiv Trump seine Rolle als Alt-Präsident ausfüllt – ob er sich, spätere juristische Probleme mal ausgenommen, aggressiv in die Tagespolitik einmischt oder sich altersmilde auf Nachfrage bloß hin und wieder zu den großen Themen äußert. Aber selbst wenn er sich in seine Wahlheimat Florida zurückziehen und als medialer Einsiedler seine Pension genießen sollte, lässt sich eins mit Sicherheit sagen: Rund um Trump hat sich unter Rechten ein extremes Ökosystem entwickelt, das von mehreren Seiten gepflegt wird.
„Wenn deine Anhänger in einer wilden Horde auf das Kapitol zustürmen, läuft etwas sehr, sehr falsch“
Konservative Medienfiguren machen genauso Stimmung gegen eine neue Regierung unter Joe Biden wie manche republikanische Abgeordnete und Senatoren. Die bittere Ironie ihrer Sätze: Um Recht und Ordnung zu wahren, rufen sie ausgerechnet zu kämpferischem Widerstand gegen eine demokratische Wahl auf. Ihr Aufbegehren gegen das Ergebnis bleibt gegenstandslos; es gibt bislang keine Beweise für flächendeckenden oder systematischen Wahlbetrug.
Joe Biden sammelte am Ende sieben Millionen Wählerstimmen mehr als Donald Trump ein, und dennoch fehlten dem Amtsinhaber in Arizona, Georgia und Wisconsin jeweils bloß 10.000 bis 20.000 Stimmen – und plötzlich wäre eine Wiederwahl aufgrund der Eigenheiten des US-amerikanischen Wahlsystems nicht ausgeschlossen gewesen. Für einige eingefleischte Trump-Fans, für die, die kein Problem damit haben, ein Regierungsgebäude zu stürmen, um die Zertifizierung eines rechtmäßigen Wahlergebnisses zu verhindern, ist der Sturm aufs Kapitol ein entscheidender Einschnitt: der Gründungsmythos für eine neue konspirative Erzählung.
„Inzwischen wird die Erstürmung als großartiges Patriotentreffen verklärt. Der Fokus liegt jetzt auf der Dämonisierung durch die Mainstreammedien“, sagt die Journalistin Anna Merlan, Autorin des Buches „Republic of Lies“, das sich mit Amerikas Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien beschäftigt. „Die Suspendierung von Parler (einer Social-Media-App, wo sich vermehrt Rechtsextreme getroffen hatten, Anm. d. R.) und das Ende von Trumps Twitter-Account nährt zusätzlich den Spin, dass die Wahrheit angeblich vertuscht werden soll.“
„Trumpismus“ – ein Monster, das bleiben wird
Spätestens nach den Ereignissen vom 6. Januar dürfte den Republikanern klar sein, sagt Merlan, dass sie ein Monster geschaffen haben, das ihre Partei übernommen hat. „Wenn deine Anhänger – teilweise bewaffnet – in einer wilden Horde auf das Kapitol zustürmen, läuft etwas sehr, sehr falsch.“
Als eine Möglichkeit, die Partei doch noch vom „Trumpismus“ loszueisen, wird das zweite Impeachment-Verfahren gegen den frisch ausgeschiedenen Präsidenten gesehen. Ist es erfolgreich, wäre das ein harter Bruch mit der politischen Parallelwelt, in der sich Milizen und Verschwörungsideologen aller Couleur tummeln. Für Trumps einstige Parteifreunde soll es wie ein Exorzismus wirken: die Vertreibung der alten Geister.
Aber auch diese Hoffnung lässt außer Acht, dass Donald Trump im November – trotz all der Skandale während seiner Präsidentschaft – noch einmal zehn Millionen Menschen mehr überzeugen konnte, ihm ihre Stimme zu geben. Seine Anziehungskraft für die konservative Klientel ist nicht zu unterschätzen. Noch hält er trotz seiner Niederlage die Partei im ideologischen Schwitzkasten.
Titelbild: Ron Haviv / VII / Redux / laif