Über dem verlassenen Atomreaktor am Horizont hängen dunkle, unheilvolle Wolken. Ein Sturm zieht auf, und die Bäume um den einsamen Protagonisten Skif wanken hin und her. Sie knarzen leise, Blätter werden aufgewirbelt, der Geigerzähler beginnt zu blinken. In der Ferne schlagen die ersten Blitze ein. Hungrig und mit einer blutenden Wunde schleppt sich Skif durch den Wald – doch er ist nicht allein. Gestalten mit Gasmasken und Gewehren treten unbemerkt zwischen den dichten Büschen hervor. Sie nehmen die Verfolgung auf. Die Männer wollen Skifs Ausrüstung und sein Leben.
Nachdem Skif die Blutung mit seinem letzten Verband stoppen konnte, lädt er die verbleibenden Patronen in die Kalaschnikow und trinkt einen letzten Schluck Wodka. Dann schlagen erste Schüsse in die Bäume ein, hinter denen er sich versteckt. Skif erwidert das Feuer, Kugeln fliegen durch den Wald, Regen prasselt auf Leichen und Kämpfer. Dazwischen: rostige Schilder, die mit ihrem grellen Gelb vor Radioaktivität warnen. Der Alltag in der Zone von Tschornobyl – nicht immer tödlich, doch stets gnadenlos.
Schauplatz des ukrainischen Videospiels „S.T.A.L.K.E.R. 2“ (Altersfreigabe: 18) ist die Welt nach der Nuklearkatastrophe von Tschornobyl. Und nicht nur das macht das Spiel so realistisch: Hier kann, wie im echten Leben, jeder Treffer tödlich sein. Gleichzeitig müssen die Spielerinnen und Spieler jederzeit auf die Strahlung achten und darauf, nicht zu verhungern. Dieses permanente Risiko sorgt für eine dramatische Spielerfahrung.
![Monster laufen auf Bahngleisen auf den Spieler zu Monster laufen auf Bahngleisen auf den Spieler zu](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/s.t.a.l.k.e.r._2_1.jpg?itok=mJpyBaFc)
Ähnlich wie das Spielerlebnis war auch die Entstehung von „S.T.A.L.K.E.R. 2“ eine Herausforderung. Das ukrainische Studio GSC Game World entwickelte das Videospiel während des russischen Angriffskrieges und wurde dabei selbst Teil des Konflikts.
„Hackerangriffe auf das Unternehmen und unsere Mitarbeitenden und Datenlecks sind Teil unserer Realität geworden“, sagt Ievgen Grygorovych, Game Director und CEO des Studios, das aus Sicherheitsgründen nach Prag verlegt wurde. Jedoch blieben auch viele Entwicklerinnen und Entwickler in Kyjiw und arbeiteten von zu Hause – aus ihren Badezimmern, Luftschutzkellern und Hausfluren.
Russische Sabotageversuche und Cyberattacken
„Zum Arbeitsalltag gehören auch gekaufte Kommentare, Mobbing in Direktnachrichten und Bewertungen im Internet“, beschreibt Grygorovych die alltägliche russische Sabotage. Die Produktion des Spiels, die bereits 2012 begann und zwischenzeitlich wieder eingestellt wurde, wurde durch den Krieg erheblich erschwert. Besonders einschneidend war der Tod des Entwicklers Volodymyr Yezhov, der im Dezember 2022 an der ukrainischen Front fiel.
Doch warum macht sich Russland überhaupt die Mühe, „S.T.A.L.K.E.R. 2“ zu sabotieren? Es geht hier schließlich „nur“ um ein Spiel, könnte man meinen. Aber eben um eines, das zum ukrainischen Kulturgut geworden ist; dem eine millionenstarke internationale Community jahrelang entgegenfieberte. Dazu kommt: Das Videospiel fördert nicht nur die Sichtbarkeit ukrainischer Kultur, sondern transportiert auch die Stimmung und Erlebniswelt des Landes. Denn der Krieg ist auch im Spiel omnipräsent. „Alles, was wir während und vor dem Entwicklungsprozess erlebt haben, hat das Endprodukt unweigerlich geprägt“, sagt Ievgen Grygorovych.
![Zerstörtes Wandbild in einem verwahrlosten Betonbau Zerstörtes Wandbild in einem verwahrlosten Betonbau](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/s.t.a.l.k.e.r._2.jpg?itok=uR9GSnHu)
Dazu zählte auch, kreative Entscheidungen zu überdenken: „Der Klang einer Sirene kann bei vielen Ukrainern posttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Solche Geräusche waren ursprünglich Teil des Spiels. Wir haben viel darüber diskutiert, wie wir mit so etwas umgehen sollten.“
Dass die ukrainische Kultur Teil des Spiels ist, war für das Studio von Beginn an ausschlaggebend. Dafür wurden russische Einflüsse bewusst entfernt. „Was das sowjetische Erbe angeht, so haben wir uns entschieden, die russischen Inschriften durch ukrainische zu ersetzen. Das war unsere Art, uns von der Aggression zu distanzieren und unsere Arbeit fortzusetzen“, sagt der Game Director.
Keine russische Sprachausgabe oder Schreibweise
Die russische Sprachausgabe hat das Studio vollständig entfernt. Besonders stolz ist Grygorovych auf die Details, die überall im Spiel zu finden sind. Beispielsweise seien die Mosaike, die im Spiel an den Bushaltestellen zu sehen sind, ein wichtiger Teil der ukrainischen Kultur: „Wir haben sie mit viel Liebe zum Detail nachgebildet. Als ukrainisches Spiel haben wir immer versucht, etwas zu schaffen, das unsere nationale Identität widerspiegelt und gleichzeitig weltweit anerkannt wird.“ Im Zuge dessen wurde auch eine Namensänderung beschlossen. Ursprünglich lautete der Untertitel des Videospiels „Heart of Chernobyl“ – was das Studio in die ukrainische Schreibweise des Ortes änderte: „Chornobyl“.
In ebendieser radioaktiven Zone bewegt man sich in „S.T.A.L.K.E.R. 2“. Die Nuklearkatastrophe liegt zwar schon Jahrzehnte zurück, doch die Folgen sind noch heute spürbar. Als ein sogenannter „Stalker“, eine Art Glücksritter, begibt sich der Charakter Skif in die gefährliche Zone, in der Hoffnung, ihre Abnormitäten zu erforschen. Dafür muss er mit verschiedenen untereinander verfeindeten Fraktionen zusammenarbeiten und sich selbst die Frage stellen, welche Zukunft er sich für diesen Ort wünscht.
![Anomalie schwebt in einem Wald über Autowracks Anomalie schwebt in einem Wald über Autowracks](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/s.t.a.l.k.e.r._2_0.jpg?itok=MxdLlQkE)
Durch den ernsten Grundton des Spiels wird der Schauplatz nie zu einer Karikatur. Die Nachwehen der Tschornobyl-Katastrophe sind auch in der Zukunft zu spüren, und das Entwicklungsstudio geht authentisch an den Unfall von 1986 heran. Dadurch wahrt „S.T.A.L.K.E.R. 2“ die Pietät und schafft den schwierigen Spagat zwischen Action und Ernsthaftigkeit.
„Das Herzstück der Serie ist die Sperrzone. Sie ist als Charakter genauso wichtig wie jede andere menschliche Figur in der Geschichte“, sagt Grygorovych. „Die Zone funktioniert nach ihren eigenen Regeln. Sie kann Leben nehmen, seltsame Phänomene wie Anomalien und Mutationen hervorbringen und die einst vitale Umgebung in eine feindliche Landschaft verwandeln.“
Ein Ort der Isolation und Einsamkeit
Dabei ist die Zone nicht nur Kulisse, sondern auch ein Ort, der die Einsamkeit und Komplexität der Charaktere zeigt. Ievgen Grygorovych sieht darin die Isolation der Protagonistinnen und Protagonisten, die oft nicht in der Lage seien, aufrichtige Bindungen einzugehen. Echte Freundschaften seien in dieser Welt selten. „In dieser rauen Umgebung sind die Beziehungen transaktional“, sagt Grygorovych. „Sie helfen einander nur, wenn es etwas zu gewinnen gibt. Diese brutale Realität unterstreicht den überlebensorientierten Charakter des Spiels.“
Auch nach Veröffentlichung ist das Spiel noch nicht ausgereift und weist technische Mängel auf. Dennoch erhält es auch zahlreiche positive Bewertungen von Nutzerinnen und Nutzern. Vielleicht, weil es ein kleines Wunder ist, dass das Videospiel trotz der vorherrschenden Kriegsbedingungen überhaupt erschienen ist; während es in Russland weder beworben noch verkauft werden darf. Berichten zufolge könnte die illegale Verbreitung des Spiels als Propaganda für die Ukraine gelten.
Wenn Skif in der fiktiven Sperrzone durch Ruinen von Atomreaktoren und abgestorbene Waldstücke wandert, täuschen weder gelbe Atomfässer noch mutierende Monster über die allgegenwärtige Kriegsstimmung in „S.T.A.L.K.E.R. 2“ hinweg. Menschen trauern vor Gräbern um gefallene Freunde, wärmen sich in zerbombten Häusern an einem Feuer und kämpfen bis zum Tode. Szenen, die sich ebenso an der ukrainischen Front abspielen könnten.
Bilder: GSC Game World Global Ltd.