Thema – Ukraine

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Aus der Realität rollen

Der ukrainische Pro-Skater Yurii Korotun gibt geflüchteten Kindern in Hannover Skate-Unterricht – damit sie für ein paar Stunden ihren Sorgen entkommen

Wheels of hope

Steht man auf einem Skateboard, muss man sich wahnsinnig konzentrieren: Das Gleichgewicht finden, die Körperspannung halten, schauen, wo man hinfährt – Skaten lässt wenig Raum für Grübeleien. Gedanken an die vermasselte Klausur, eine unglückliche Liebe oder den Krieg im Heimatland verschwinden für den Moment.

Das brachte Yurii Korotun ein paar Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine auf die Idee, geflohenen Kindern das Skaten beizubringen. Damit sie nach wochenlanger Flucht und Ausharren in Sammellagern wieder körperlich und mental in Bewegung kommen und, vor allem, damit sie für ein paar Stunden der Realität entfliehen können.

Als einer der besten Skateboarder des Landes wurde der 25-Jährige früh von verschiedenen ukrainischen Marken gesponsert. Für Wettbewerbe reiste Yurii quer durch die Ukraine und ins Ausland und sollte sogar bei den Olympischen Spielen antreten. Auch für den Präsidenten Selenskyj durfte er schon skaten. Nebenbei arbeitete er in einer Produktionsfirma, die Werbevideos für internationale Kunden drehte.

Der Krieg in der Ukraine verändert Yuriis Leben

Das alles änderte sich, als Anfang 2022 erste ausländische Firmen das Land verließen. Da es für Yurii keine Arbeit mehr gab, packte er das Nötigste und reiste zusammen mit seiner Freundin in die Türkei. Als er in Antalya war, erreichte ihn die Nachricht des ersten russischen Angriffs.

Sofort fuhr das Paar nach Hannover, der Heimatstadt von Yuriis Freundin. Um sich nicht in Trauer und Sorgen zu verlieren, entschied sich Yurii, aktiv zu werden: Mit seinem Netzwerk als professioneller Skater und Produktionsassistent half er, sichere Fluchtrouten zu finden, und organisierte Geld- und Sachspenden, zum Beispiel für kugelsichere Westen.

Heute hilft er mit dem, was er am besten kann: Skaten. Mit der Skatehalle „Gleis-D“ und dem gleichnamigen Verein organisiert Yurii Skate-Unterricht, zweimal die Woche, kostenlos, inklusive Mittagessen und Equipment. Finanziert wird das Projekt durch Spenden und Mittel des Vereins.

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Wheels of hope
Vanya (13) aus Oblast Schytomyr und Abdullah (12) aus Dnipro stehen schon sicher auf ihren Boards

„An jeder Session nehmen zwischen 18 und 25 Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft am Messegelände Hannover teil. Nun wollen wir zwei weitere Tage anbieten, an denen ich ihnen Skaten auch als Subkultur näherbringe – dafür will ich ihnen zum Beispiel Filme zeigen.

Ich vermeide es, sie an die Geschehnisse in der Ukraine zu erinnern, außer sie wollen darüber sprechen. Die Kinder sehen jung aus, aber der Krieg hat sie gezwungen, in den letzten Monaten viel erwachsener zu werden. Viele von ihnen haben schon wahnsinnig viel gelernt und wollen jetzt auch allein in der Stadt fahren. Ihre Skateboards haben sie von Skatern aus Hannover geschenkt bekommen.“

Yurii

Wheels of hope
Der 9-jährige Antoni aus Kiew kurvt schon alleine durch die Mini-Halfpipe, während Erika (12) noch das „Drop-In“ übt

„Ich bin mit meiner Familie Anfang März angekommen. Die Reise nach Hannover hat sechs Tage gedauert. Das Skaten macht mir sehr viel Spaß, es ist eine schöne Abwechslung vom Lager. Hier kann man Dampf ablassen, sich frei fühlen. Ich bin heute zum zweiten Mal hier, verstehe aber gut, warum Skaten so beliebt ist. Man kann immer und überall üben. Ich möchte jetzt öfter herkommen“

Erika, 12 – Dnipro

Wheels of hope
Bei aller Lässigkeit und Subkultur: Skaten ist ein Sport, vor dem man sich warm machen muss. Seit 2020 ist Skateboarding olympische Disziplin

„Wir sind am sechsten März angekommen, ich war mit meiner Familie tagelang in Bussen, Zügen und zu Fuß unterwegs. In Charkiw bin ich viel mit meinen Freunden geskatet. Mein Board musste ich leider zurücklassen. Ich war überglücklich, als ich hörte, dass Yurii uns Kurse anbietet. Wenn der Krieg vorbei ist und ich wieder in der Ukraine bin, werde ich mit meinen Freunden zu den großen Skateparks fahren. Dann zeige ich allen die neuen Tricks, die ich hier lerne.“

Dyma, 15 – Charkiw

Wheels of hope
Was ein Brett: Yurii hat diverse ukrainische und internationale Turniere gewonnen, da kann sein Schüler Abdullah nur staunen

„Eine Woche nach dem Kriegsausbruch sind wir nach Odessa geflohen. Über Polen kamen wir nach Berlin, weiter nach Koblenz, dann Hannover. Die Menschen hier unterstützen uns sehr, vor allem die Skater-Community. Skaten ist mehr als ein Sport – es ist eine Kultur. In der Ukraine hatte sie sich langsam etabliert, es gab immer mehr Skateparks in Kiew und Odessa. In Deutschland gibt es nochmal mehr Möglichkeiten. Ich bin froh, eine Beschäftigung nach der Schule gefunden zu haben. Das Skaten hilft mir, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden.“

Daniel, 17 – Odessa

Wheels of hope
Zurück zur Realität: Arthur (15), Erika (12) und Karina (14) fahren mit der Tram zurück zu ihren Notunterkünften

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.