Niemand kann ihn sehen. Nachts, wenn Benni in seiner Kiste liegt, atmet er die kühle, nach Holz riechende Luft tief ein. Durch die Fenster blickt er hinaus auf den Rasen des Friedhofs. Er ist allein, endlich.
Im Herbst 2019 musste Benni – seinen Nachnamen will er nicht nennen – ins Gefängnis, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hatte. Nach zweieinhalb Monaten war er wieder frei und so pleite, dass er seine Miete nicht zahlen konnte. Seitdem ist er obdachlos. Und unsichtbar – denn er will nicht, dass seine Eltern, sein Bruder und seine Oma ihn so sehen.
Eine 62-Jährige ist in Hannover zur Sprecherin der Obdachlosen geworden.
Er ist katholisch erzogen worden, daher verbringt er die Tage in der Stadtbibliothek und liest Bücher über das Christentum. Abends sitzt er am Busbahnhof und trinkt Bier.
Dort, in einer klirrend kalten Dezembernacht, sah ihn im vergangenen Jahr ein Busfahrer. Aus Sorge, Benni könnte erfrieren, rief er die Polizei. Doch Benni weigerte sich, in eine Notunterkunft zu gehen. Die Beamten schickten ihn zu den neuen Schlafkojen, den sogenannten Ulmer Nestern. Prototypen, mit denen die Stadt und eine Gruppe Ulmer Jungunternehmer zeigen möchten, wie man das Leben von Obdachlosen erleichtern kann.
41.000 Obdachlose leben in Deutschland
Geschätzt 41.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße, die Dunkelziffer ist wohl noch um einiges höher. Mindestens zwölf von ihnen sind im vergangenen Winter erfroren. Denn nicht jeder, der auf der Straße lebt, nutzt auch die zur Verfügung stehenden Notunterkünfte. Obdachlose Menschen müssen sich dort an strenge Vorschriften halten, sie leben in den Unterkünften auf engem Raum ohne Privatsphäre, dürfen ihre Hunde nicht mitbringen oder werden abgewiesen, weil sie zu viel getrunken haben. Auch sind viele von ihnen nicht beim Arbeits- oder Sozialamt registriert, sodass die Notunterkünfte sie ablehnen müssen, da ohne Sozialnummer die Kosten nicht abgerechnet werden können.
Minutenlang stand Benni in jener Dezembernacht vor dem fünfeckigen Kasten aus Holz und beäugte ihn. Bis die Kälte über das Misstrauen siegte, er sich auf die grüne Gummimatte legte und den Deckel über sich schloss. Aber nicht ganz, einen kleinen Spalt ließ er offen. Nur zur Sicherheit.
Die Angst verflog mit dem Schlaf. Seit dieser Nacht versucht er jeden Abend, eine der Kojen zu ergattern. Meistens gelingt es ihm. Die Stadt Ulm nennt die Nester „Notfallinstrument in letzter Instanz“. Benni nennt sie mittlerweile „mein kleines Zuhause“.
Die „Ulmer Nester“ sollen zumindest vor dem Erfrieren schützen
Ein Januarmorgen auf dem Alten Friedhof, der zentral liegt. Die Luft ist so eisig, dass der Urin der Hunde in der Wintersonne dampft. Die Hundebesitzer sind in Daunenjacken eingepackt und hüpfen auf der Stelle, um ihre Füße zu wärmen. Zwischen mehreren Tannen steht die fünfeckige Holzkiste, in der Benni die Nacht verbracht hat. Niemand beachtet sie.
Hannah Böck und Norman Kurock sind unterwegs zu Benni. Sie arbeiten für die Caritas und betreuen das Pilotprojekt. Jeden Morgen gehen sie zu den Nestern und schauen, wer darin liegt. Dass jemand drinliegt, wissen sie bereits, denn per App bekommen sie fortlaufend Informationen zugesendet. Sie sehen, wann die Koje geöffnet und geschlossen wird, wie warm es in der Kiste ist und ob die Sensoren für Rauch anspringen. Außerdem können die Sozialarbeiter mit der App die Kiste auch dann öffnen, wenn der Bewohner sie von innen verriegelt hat. Jeden Morgen um neun verschließen sie die Kojen, abends um sechs werden sie mit der App wieder geöffnet – sie sollen ja nur für die Nacht sein.
„Wir kommen nicht, um die Schlafenden zu kontrollieren, sondern um im Notfall helfen zu können.“ Norman Kurock hat an diesem Morgen einen Schlafsack für Benni dabei, der hat die Nacht wieder einmal nur in dünner Regenjacke und ohne Decke im Nest verbracht.
Die Schlafkapseln sind mit Sensoren, einer App und einem Wärmetauscher ausgestattet
Sechs engagierte Designer, Hardware-und Softwareentwickler fanden sich 2018 in Ulm zusammen, um zu helfen. Die Stadt Ulm stellte ihnen eine lebensentscheidende Aufgabe: Wie kann man obdachlose Menschen vor dem Kältetod bewahren?
Nach 48 Stunden präsentierten die sechs Unternehmer ihre Idee – eine Hightechkiste aus massivem Holz, mit Sensoren, einer App und einem Wärmetauscher, der für Frischluft sorgt und die Innentemperatur stabil hält. Nach anfänglicher Begeisterung gab es von manchen Ulmern auch Kritik: Die Schlafkapseln würden an Särge erinnern und hätten weder Toilette noch Waschbecken.
Dabei ist die Kastenform kein Zufall, erzählt Produktdesigner Patrick Kaczmarek. Sie sorge dafür, dass die Kapseln für Menschen jeder Statur und Größe gut zugänglich und benutzbar seien. Zudem biete sie genügend Stauraum für persönliche Gegenstände oder sogar einen Hund.
Nur rund fünf Grad wärmer als draußen wird es in den Holzkisten. Ein Ersatz für eine Wohnung sollen die Schlafkapseln aber ohnehin nicht sein. „Niemand soll einziehen wollen“, sagt Kaczmarek. „Die Nester sind nur da, um vor dem nächtlichen Erfrieren zu schützen.“ Einige Fehler und Schwächen haben sich jetzt schon gezeigt, so schließt der Deckel bei Feuchtigkeit schwerer. Das Ziel ist es, die optimierten Nester jeden Winter und bald auch in anderen Städten aufzustellen.
Benni hatte dieses Mal keine gute Nacht. Albträume und das stündliche Schlagen der Turmuhr haben ihn wach gehalten. Seine Lippen sind rissig, seine Augen tränen. Mit zittrigen Händen trägt er zwei große Taschen, die dunkle Wollmütze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. „Immerhin hatte ich es warm.“
Er weiß, dass die Nächte in seinem Nest gezählt sind. Im Frühling endet die Testphase (Anmerkung der Redaktion: Mittlerweile hat die Stadt Ulm sich entschieden, die Nester jeden Winter aufzustellen, sie sind also auch 2021 wieder im Einsatz). Benni will eh eine richtige Wohnung, ein Bett, einen Job. Hier, unter dem niedrigen Deckel, hat er das Gefühl, dass er sich ein Stück weit davor versteckt, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Titelbild: Ulmer Nest