Worum geht’s?
Die Entwicklungsgeschichte von Jura-Erstsemesterstudentin Luisa (Mala Emde), die am Wochenende mit ihren adligen Eltern auf die Jagd geht und unter der Woche immer mehr Zeit in einem linken Wohn- und Kulturprojekt verbringt. Ihre Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron) führt sie in die Antifa ein, wo sich Luisa mit Alfa (Noah Saavedra) und Lenor (Tonio Schneider) anfreundet. Die Aktionen der Gruppe bleiben zunächst friedlich, radikalisieren sich aber nach und nach. Am Anfang zuckt Luisa noch, als ihre neuen Freunde bei der Kundgebung einer rechtspopulistischen Partei Farbeier und Torten werfen, doch bald schlägt sie selbst Autoscheiben von Teilnehmern eines Neonazi-Aufmarsches ein, prügelt und bewaffnet sich.
Worum geht’s noch?
Die alte Frage, ob Gewalt als Mittel des Protests legitim ist. Die spaltet im Film die Gruppe: Während Batte und Lenor friedliche Aktionen durchführen wollen und Gewalt höchstens gegen Dinge okay finden, sieht Alfa von Anfang an auch körperliche Gewalt als adäquates Mittel im Kampf gegen rechtsextreme Kräfte.
Luisa will etwas gegen Rassimus tun – und Alfa gefallen
Wer erzählt hier – und wie?
Die Autorin und Regisseurin Julia von Heinz war selbst zehn Jahre lang in der Antifa. Sie trat ein, nachdem sie an ihrem 15. Geburtstag mit ihren Freunden von Neonazis überfallen worden war. Wie ihre Protagonistin Luisa hat von Heinz erst Jura studiert, sie brach aber nach zwei Semestern ab und ging zum Film. „Und morgen die ganze Welt“ ist nicht streng autobiografisch, Heinz’ persönliche Erfahrung spürt man aber in jeder Filmminute – besonders wenn die Organisation und der Tagesablauf innerhalb der Antifa zu sehen sind, zum Beispiel die Vorträge der Mitglieder im Plenum. Auch Hierarchie und Gruppendynamik werden eindringlich gezeigt, vor allem am Beispiel von Alfa, der bald Anhänger innerhalb der Gruppe findet. Die hektische Handkamera macht es auch visuell authentisch. Dabei erzählt der Film radikal subjektiv Luisas Sicht auf die Dinge, hält sich aber mit Wertungen zurück. Vieles bleibt offen, auch Luisas Motivation: Sie scheint eine Mischung zu sein aus dem diffusen Gefühl, etwas gegen das Erstarken von Rassismus und Intoleranz in Deutschland unternehmen zu müssen, und dem Bedürfnis, sich in der Gruppe zu bewähren und, ja, auch Alfa zu gefallen.
Wie nah ist das an der Realität?
Die Diskussion, ob Gewalt ein legitimes Mittel im Kampf gegen Faschismus ist – und vor allem, wann man von Faschismus sprechen kann –, gibt es seit Jahrzehnten innerhalb der Antifa-Szene. Von außen wiederum wird solche Gewaltbereitschaft scharf verurteilt: Aktuell werden knapp 50 Antifa-Gruppen vom Verfassungsschutz beobachtet und als „extremistisch“ eingestuft. Manche realen Phänomene oder Personen greift von Heinz außerdem leicht verfremdet auf: Die rechtspopulistische Partei im Film, „Liste 14“, spielt nicht nur im Logo auf die AfD an, der Altnazi Manfred Röhder, bei dem Luisa, Alfa und Lenor im Laufe der Geschichte einbrechen, ist dem 2014 verstorbenen Manfred Roeder nachempfunden, der wegen Holocaustleugnung, Volksverhetzung und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. Was auf der Erzählebene allerdings nicht ganz nachvollziehbar erscheint, ist Luisas Radikalisierungsprozess. Ihre völlige Gewaltbereitschaft, nachdem sie bei einer Auseinandersetzung von Rechtsextremen verletzt worden ist, kommt doch etwas abrupt.
Gelernt:
Allerhand Paragrafen. Die Polizei ermittelt zum Beispiel im Laufe des Films gegen das linke Projekt, in dem sich Luisa engagiert, und wendet dabei den viel diskutierten Paragrafen 129 des Strafgesetzbuchs an, der der Polizei umfassende Überwachungsmaßnahmen ermöglicht, wenn sie einen Verdacht auf die Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung hat. Den Rahmen des Films bildet der Artikel 20 des Grundgesetzes, in dem steht: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (…) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Am Anfang wird er eingeblendet, im Uni-Seminar diskutieren Luisa und ihre Kommilitonen, ob nicht schon die Vorbereitung eines antidemokratischen Umsturzes bekämpft werden sollte, und er bildet auch den Schluss des Films.
Schade:
Der Cast in „Und morgen die ganze Welt“ ist durchaus divers, der Film aber konzentriert sich auf Luisas weiße, privilegierte Perspektive. Allen anderen wird nur sehrbedingt eine eigene Stimme zugestanden. Dafür erhält die Liebesgeschichte zwischen Luisa und Alfa recht viel Raum.
Überflüssig:
Dass der Alphamann Alfa heißt (haben wir auch so verstanden).
Good Job!
„Und morgen die ganze Welt“ hätte ein pädagogisch anmutender Themen- oder Milieufilm werden können. Julia von Heinz’ persönliche Erfahrung, ihr Talent als Beobachterin, die nahe, unmittelbare Kamera und Mala Emdes bestechendes Spiel als Luisa verleihen dem Film aber eine große Kraft.
„Und morgen die ganze Welt“ feierte im September in Venedig Premiere und geht für Deutschland in das Rennen um den Oscar in der Kategorie „International Feature Film“ .
In den deutschen Kinos läuft er ab sofort.
Titelbild: Oliver Wolff