Der politische Aktivist Turgay Ulu, Jahrgang 1973, ist Mitglied der Berliner Refugee-Bewegung. In der Türkei war er 15 Jahre im Gefängnis und floh 2011 nach Deutschland. Die Bewegung protestiert gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern und fordert die Arbeitserlaubnis für Asylsuchende.
fluter.de: Turgay Ulu, wie oft sind Sie als politischer Aktivist schon in den Hungerstreik getreten?
Turgay Ulu: Ich weiß es nicht mehr. Das erste Mal, 1996 in der Türkei, als ich im Gefängnis gefoltert wurde. Sie haben mich mit Stromschlägen traktiert, auf die Fußsohlen geschlagen, an den Füßen aufgehängt. Dagegen wollte ich mit einem Hungerstreik protestieren.
Haben Sie sich damit nicht noch zusätzlich bestraft?
Der Hungerstreik war meine einzige Möglichkeit zum Widerstand. Ich hatte nichts anderes, nur meinen Körper. Natürlich hat die Polizei sehr aggressiv reagiert. Sie kann mit so einer Reaktion nicht umgehen. Für mich war es ein Akt des Selbstbewusstseins, denn Widerstand gegen Folter ist etwas Humanes. Mit Widerstand kann man seine psychische Verfassung schützen. Sie ist auch ein Protest gegen das inhumane kapitalistische System.
Was hat der Hungerstreik bewirkt?
Mit anderen Gefängnisinsassen in Eskişehir habe ich auch gegen die Isolationshaft in den Zellen protestiert. Unsere Forderungen wurden zunächst nicht erfüllt, zwölf Menschen sind beim Hungerstreik gestorben. Aber danach wurden wir in ein anderes Gefängnis überführt. Der Staat hat uns hart behandelt. Sie wollten uns zwangsernähren, einige von uns wurden im Krankenhaus falsch behandelt und haben das Wernicke-Korsakow-Syndrom bekommen. Zwischen 1996 und 2000 haben 500 Personen auf diese Weise ihr Gedächtnis verloren.
Als Mitglied der Flüchtlingsbewegung in Berlin haben Sie 2013 an einem Hungerstreik teilgenommen, um gegen die Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland zu protestieren.
Beim Refugee Strike wollte die Polizei unsere Protestzelte abreißen. Eine Freundin hat bei der Räumung einen Baum besetzt. Weil die Polizei ihr kein Wasser und Essen geben wollte, haben wir den Hungerstreik begonnen. Er dauerte 22 Tage. Dann haben wir Vertreter des Senats getroffen, die unseren Forderungen nach einem Zentrum für Flüchtlinge vorerst zugestimmt haben.
Wie hat die Polizei reagiert?
Sie nahmen unsere Decken und Regenmäntel weg. Dann unsere Isomatten. Aber wir haben viel Unterstützung aus der Nachbarschaft bekommen. Viele Menschen brachten uns Wasser, Salz und Zucker, neue Decken und Kleidung. Sie öffneten ihre Türen für uns und ließen uns bei ihnen duschen.
Was macht Hunger mit dem Körper?
Wenn man nur Zucker, Salz und Wasser zu sich nimmt, gibt es die Gefahr, bleibende Schäden davonzutragen oder zu sterben. Man geht nur in den Hungerstreik, wenn es keine andere Option gibt. In den ersten drei Tagen ist man noch hungrig, danach nicht mehr. Der Körper wird leichter und ruhiger. Danach beginnen die Kopfschmerzen. In der nächsten Phase hat man nicht einmal mehr Durst. Der Atem fängt an zu stinken, die Zunge fällt auseinander. Zuerst löst sich das Fett im Körper auf, dann die Muskeln, dann das Fleisch im Mund und Magen. Wenn der Streik dann noch weitergeht, kann man nur noch Eiswürfel essen, dann muss man sich übergeben. Schließlich Schwindelgefühl und Ohnmacht.
Und wenn man den Hungerstreik beendet?
Nach einem Hungerstreik kann sich der Körper nur schwer wieder an Essen gewöhnen, weil der übrig gebliebene Rest des Magens sehr klein ist. Man sollte nicht wieder direkt festes Essen zu sich nehmen, sondern in vielen kleinen Portionen Joghurt, Suppe und Kartoffeln. Bei zu viel salzigem Essen kann der Körper aufquellen. Es gibt Probleme mit dem Magen und der Verdauung, aber langsam nimmt man auch wieder zu. Als ich 59 Tage im Hungerstreik war, habe ich nur noch 45 Kilogramm gewogen.
Und trotzdem sind Sie auch danach wieder in den Hungerstreik getreten?
Hungerstreik ist eine Form des Protests, die man nicht oft durchführen kann. Sie sollte immer die allerletzte Option bleiben. Aber wenn ich muss, werde ich es trotzdem wieder machen.
Turgay Ulu wurde 1996 in Istanbul wegen angeblicher Mithilfe bei einem Fluchtversuch und Mitgliedschaft in einer bewaffneten kommunistischen Organisation festgenommen – und später zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde wegen guter Führung in lebenslange Haft umgewandelt. Amnesty International setzte sich jahrelang für Ulu ein, der 2011 freikam und über Griechenland nach Deutschland floh. Hinweisen auf Folter und erzwungene Geständnisse im Polizeigewahrsam gingen die türkischen Gerichte nicht nach. Als Turgay Ulu sich 2013 an den Berliner Flüchtlingsprotesten beteiligte, tat er das auch in eigener Sache. Denn er war in Deutschland nicht als politischer Flüchtling anerkannt worden. Gegen diese Entscheidung hat er geklagt. Im April 2015 wird dazu ein Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover erwartet.
Interviewer Arne Semsrott arbeitet als freier Journalist in Berlin. Er ist ein Kenner der türkischen Protestbewegungen, da er ein Jahr in Istanbul gelebt und die Türkei ausgiebig bereist hat.