Warum ist Juliane Krankenpflegerin geworden? Damals, nach dem Abitur, hatte sie zuerst überlegt zu studieren. Geschichte und Biologie auf Lehramt. Oder doch Medizin. Den Körper, sagt sie, finde 
sie total faszinierend. „Wenn irgendjemand eine seltene Krankheit hat, bin ich die Erste, die sich schlaumacht.“ Aber jahrelang über Büchern brüten, Theorie pauken? „Ich wollte lieber gleich unter Leute“, sagt Juliane. „Mit Menschen arbeiten.“ Deswegen hat sie eine Ausbildung im Krankenhaus begonnen. Oder doch, weil sie eine Frau ist?

In Julianes Ausbildungsjahrgang gab es 
genau zwei Männer. Auf der Station in der Nähe von Köln, wo die 35-Jährige heute arbeitet, sind die Frauen unter sich. 86 Prozent aller Pflegekräfte im Krankenhaus sind laut Statistischem Bundesamt weiblich. Es sind fast immer Frauen, die Patienten in Deutschland den Hintern abwischen, Spritzen setzen, das Essen ans Bett bringen, die Decke ausschütteln, den Tropf wechseln, vielleicht auch die Hand halten, wenn es dramatisch wird.

Juliane sieht sich als Feministin. Sie will, dass ihre Tochter auf dem Bolzplatz den Ball ins Tor schießen darf und ihr Sohn rosafarbene T-Shirts tragen kann, ohne ausgelacht zu werden. Aber hat Juliane mit ihrer Berufswahl nicht auch ihren kleinen Beitrag dazu geleistet, dass Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt noch immer so unterschiedlich dastehen?

Vor dem Gesetz sind Männer und Frauen gleich, im Job sind sie es nicht. Die Statistik zeigt: In Deutschland verdienen Frauen 22 Prozent weniger als Männer, wenn man den Durchschnittslohn aller erwerbstätigen Frauen mit dem Durchschnittslohn aller erwerbstätigen Männer vergleicht. Diese sogenannte unbereinigte Lohnkluft ist größer als in vielen anderen europäischen Ländern, und sie hält sich hartnäckig. Seit Jahren hat sich am Verdienstunterschied zwischen den Geschlechtern kaum etwas getan – trotz Frauenbewegung und obwohl sich niemand mehr über eine Frau an der Spitze der Bundesregierung wundert. Woran liegt das?

Ist eine Pflegerin für die Gesellschaft weniger wert als ein Ingenieur?

Vor Kurzem kam heraus, dass der Sandalenhersteller Birkenstock jahrelang Frauen systematisch schlechter bezahlt hatte als Männer. Mitarbeiterinnen klagten – und bekamen Recht. Die Diskriminierung war so eindeutig wie skandalös.

Auch bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gehen immer wieder Beschwerden über sexistische Chefs ein. Einmal meldete sich dort eine Schlosserin und klagte darüber, dass sie 11,50 Euro in der Stunde verdiene, die männlichen Kollegen aber 19 Euro. Ihr Vorgesetzter leugnete die Diskriminierung nicht einmal: Sie sei nun mal eine Frau. Eine Geschäftsführerin berichtete den Beratern, dass sie weniger Bonus als ihr männlicher Kollege bekomme – obwohl sie die bessere Leistungsbeurteilung habe.

Wie häufig Fälle dieser Art vorkommen, ist schwer zu sagen. Selten erklärt ein Chef so unverblümt, dass er Frauen allein wegen ihres Geschlechts weniger Lohn zugesteht. Selten ziehen die Benachteiligten vor Gericht. Und Statistikexperten sagen: Es gibt einen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, der nicht anders als durch offene Diskriminierung gedeutet werden kann. Die Kluft lässt sich aber auch noch anders erklären: Frauen nehmen seltener Führungspositionen ein – und sie entscheiden sich viel häufiger für die schlechter bezahlten Berufe. So wie Juliane, die Krankenpflegerin.

Auffällig ist, welch unterschiedliche Wege junge Männer und Frauen nach der Schule einschlagen. Die Hälfte aller weiblichen Azubis verteilt sich auf gerade einmal zehn Berufe. Der beliebteste betriebliche Ausbildungsberuf war zuletzt Kauffrau für Büromanagement. Drei Viertel aller Azubis in diesem Job sind weiblich. Vorn in der Liste waren auch Verkäuferin, medizinische Fachangestellte oder Friseurin. Der beliebteste Ausbildungsberuf bei jungen Männern war Kraftfahrzeugmechatroniker – in dieser Lehre liegt der Frauenanteil bei unter fünf Prozent.  

Sind Frauen selbst schuld, wenn am Ende die kleinere Summe auf ihrer Gehaltsabrechnung steht? Niemand verbietet jungen Frauen, Ingenieurin oder Managerin zu werden – und dann auch gut zu verdienen. Stimmt das etwa nicht? Henrike von Platen widerspricht dieser Sichtweise. Sie ist Unternehmensberaterin und Präsidentin des Vereins „Business and Professional Women“. Das Netzwerk setzt sich für Chancengleichheit in Beruf, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein. „Frauen wählen nicht die falschen Berufe“, sagt sie. „Wir müssen uns eher fragen, warum wir so viele Frauenberufe so wenig wertschätzen.“

Die Soziologinnen Ann-Christin Hausmann, Corinna Kleinert und Kathrin Leuze haben kürzlich in einer Studie gezeigt. Der Lohn in vielen Berufen sinkt, wenn der Frauenanteil steigt. Überspitzt gesagt: Wer weiß, ob der Abstand zwischen den Geschlechtern wirklich kleiner wäre, ob Frauen wirklich besser verdienen würden, wenn sie nicht alle Krankenpflegerin lernten, sondern Kfz-Mechatronikerin? Vielleicht sinken dann nur die Löhne in den einstigen Männerdomänen.

Juliane, die Krankenpflegerin, drückt es zynisch aus: „Für die Kliniken wäre es am besten, wenn die Pflege weiterhin ein reiner Frauenberuf wäre. Dann können die Gehälter niedrig bleiben.“

 

Spätestens wenn die Kinder kommen, ist es mit der Karriere vorbei

Hinter der Lohnkluft zwischen den Geschlechtern steht damit am Ende eine sehr grundsätzliche Frage: Was ist ein gerechter Lohn? Jeder wird zustimmen, dass es unfair ist, wenn eine Schlosserin für die gleiche Arbeit weniger bekommt als ein Schlosser. Aber wie ungerecht ist es, dass eine Krankenpflegerin anders bezahlt wird als ein Gerüstbauer? Dass ein Ingenieur besser verdient als die Lektorin, die genauso lang studiert hat?

Dazu kommt: Das Geschlechtergefälle auf dem Lohnzettel verschärft sich mit dem Alter – wie von selbst, fast automatisch. Juliane hat 1999 ihre Ausbildung als Krankenschwester begonnen. Ihr Freund hat Bankkaufmann gelernt. Die Ausbildungsvergütungen für beide Jobs liegen nicht so weit auseinander. Dann heirateten sie, und allmählich kippte das Verhältnis. 2006 wurde die Tochter geboren, ein Jahr später kam der Sohn auf die Welt. Juliane setzte im Beruf aus, um sich um die Kinder zu kümmern, drei Jahre lang. 2009 hat sie ihren Job wieder aufgenommen, als Nachtschwester auf einer internistischen Station. Seither arbeitet sie in Teilzeit, acht Nächte im Monat. Ihr Mann ist Vollzeit im Büro.

Ökonomisch ist das eine vernünftige Entscheidung. „Sein Gehalt ist viel höher als meins“, sagt Juliane. „Ihn in Teilzeit zu schicken wäre Schwachsinn.“ Und ihr Job lasse sich viel besser mit der Kinderbetreuung vereinbaren als der ihres Mannes: sind die Kinder im Bett, geht sie zur Wache auf die Station. Wenn sie am Morgen heimkommt, kann sie die beiden schulfertig machen und sich anschließend schlafen legen. Mit Zulagen hat sie am Ende 1.163 Euro netto. Hauptverdiener ist ihr Mann.

Das deutsche Steuerrecht begünstigt dieses Modell: Durch das sogenannte Ehegattensplitting sparen Paare immer dann besonders viel Steuern, wenn ihre Einkommen weit auseinanderliegen. So entsteht ein Anreiz, das kleine Gehalt kleiner und das große noch größer zu machen. Männer steigen auf, Frauen steigen aus.

Die Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt zeigen, dass das Modell von Juliane ziemlich gängig sein muss: Mit 20 Jahren, zu Beginn ihrer Erwerbsbiografie, liegen die Stundenlöhne von Frauen (6,64 Euro) und Männern (7,12 Euro) noch nah beieinander. Der Bruch setzt ein, wenn die Kinder kommen. Mit 30 verdienen Frauen im Schnitt 14,72 Euro, Männer 16,16 Euro. Mit 50 ist der Vorsprung der Männer (21,51 Euro) vor den Frauen (15,62 Euro) praktisch uneinholbar.

Männer machen selbst in typischen Frauenberufen schneller Karriere

Frauen, die aufsteigen wollen, würden immer wieder an die berüchtigte „gläserne Decke“ stoßen, sagt Henrike von Platen vom Netzwerk „Business and Professional Women“. Ganz plötzlich und ohne auf Anhieb erkennbare Gründe kommen sie in ihrer Karriere nicht weiter voran. „Oben in den Führungsetagen sitzen fast nur Männer. Und Männer befördern tendenziell und oft auch unbewusst eher Männer.“

Eine Informatikerin hat sich zum Beispiel mit ihrer Geschichte an den Verein gewandt. Zeitgleich mit einem Studienkollegen hatte sie den Job bei einer IT-Firma angefangen, sie machten die gleiche Arbeit, bekamen vermutlich das gleiche Gehalt, dann kam das Kind, sie reduzierte ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden. Ihr Kollege wurde zum Projektleiter befördert, sie blieb stecken – wer in Teilzeit arbeite, sagten ihr die Chefs, der könne keinen Leitungsposten übernehmen. Man erwarte 100 Prozent.

In den 90er-Jahren stieß die US-Soziologin Christine L. Williams auf ein merkwürdiges Phänomen. Sie analysierte die Karriereverläufe in typischen Frauenberufen. Kurioserweise machten die wenigen Männer in solchen Berufen ganz andere Erfahrungen als Frauen in Männerjobs. Sie erwiesen sich keineswegs als Exoten mit Karrierehemmnis. Im Gegenteil: Die Männer stiegen wie in einem „gläsernen Fahrstuhl“ wesentlich schneller und selbstverständlicher in der Betriebshierarchie auf als ihre vielen, vielen Kolleginnen. Der Aufstieg scheint dabei der Profilierung zu dienen, bewusst oder unbewusst. Männer machen Karriere, um sich als richtiger Mann zu beweisen.

„Bei Männern in der Krankenpflege denken alle sofort: Das ist so einer, bei dem hat es zum Arzt nicht gereicht“, sagt Susanne, 54 Jahre alt, eine Pflegerin, die eigentlich anders heißt und lange in einer Universitätsklinik in Süddeutschland gearbeitet hat. Damals, mit Mitte 30, als sie etwas mehr Verantwortung in ihrem Job übernehmen wollte, beobachtete sie, wie plötzlich ein Mann neben ihr in den gläsernen Fahrstuhl stieg. In einem Teamgespräch hatte es eines Tages 
geheißen, die neu aufgebaute Abteilung in der Klinik brauche nun einen Pflegeleiter. Susanne fragte den Arzt, was es mit dem neuen Posten auf sich habe – sie könne sich das eventuell vorstellen.

„Das wird nichts“, sagte der. „Warum nicht?“, fragte Susanne. Sie sei doch von Anfang an dabei, habe den Bereich mit aufgebaut und sogar eine zweijährige Fortbildung gemacht. Das müsse er nicht begründen, erklärte der Arzt. Er habe schon jemanden im Blick: den einzigen Mann im Team der zwölf Pflegekräfte. Es war der Mann, den Susanne angelernt hatte.

„Die zwei hatten das längst miteinander ausgemacht“, sagt Susanne. Doch sie gab nicht nach: Sie habe sich damals „auf die Hinterfüße“ gestellt. Sie protestierte, drängte beim Personalrat, dass die Stelle ordentlich ausgeschrieben 
werden solle. Das wurde sie. Sie bewarb sich, ihr Kollege ebenfalls. Am Ende bekam sie doch noch die Stelle. Aber wer kämpft schon bis zum Ende?  

Juliane, die Pflegerin in Teilzeit aus der Nähe von Köln, ist froh, dass ihr Mann eine Beförderung bekam. „Was soll ich um die Karriere kämpfen?“, sagt sie. „Ich habe zwei Kinder, ich habe gar nicht die Kraft dazu.“

Fotos: Brian Finke