fluter.de: Professor Lu, eines Ihrer Forschungsgebiete ist die Geschlechtergeschichte. Was hat Ihr Interesse am Thema Geschlecht und insbesondere am Konzept der Männlichkeit geweckt?
Lu Sheng-yen: Das erste Mal habe ich mich während meiner Zeit in Edinburgh, als ich meinen Master in Mittelalterlicher Geschichte machte, für Geschlechterfragen interessiert. Damals sah ich einen Kurs namens „Männlichkeit im Mittelalter“ und wurde neugierig. Solche Kurse kannte ich aus Taiwan nicht. Wir hatten Kurse über Geschlechtertheorien, aber die meisten konzentrierten sich auf Frauen.
Woher kommt unsere heutige Vorstellung eines „richtigen Mannes“ in Europa?
Im Mittelalter waren die hervorstechenden Merkmale eines „richtigen Mannes“ körperliche Stärke, militärisches Können und sexuelle Fähigkeiten. In großen Reichen der europäischen Geschichte, wie dem Römischen Reich, war körperliche Stärke eines Mannes eine wichtige Voraussetzung, um ein guter Soldat zu sein. In der antiken griechischen Politik war auch das Konzept des „Bürger-Soldaten“ verbreitet, also dass jeder Bürger in die Armee gehen und für seinen Stadtstaat kämpfen sollte.
Im Mittelalter und zu vielen anderen Zeiten hatten gewöhnliche Männer allerdings keinen Zugang zu politischer oder militärischer Macht. Eine Möglichkeit, die eigene Männlichkeit unter Beweis zu stellen, war für nicht wenige, gegenüber Frauen Dominanz zu zeigen, etwa als Vater und Familienoberhaupt.
Vergleichen wir das nun mit Taiwan. Wie hat sich die Vorstellung von Männlichkeit dort historisch entwickelt?
Die Geschichte Taiwans ist eng mit der chinesischen Kultur verbunden. Der größte Teil der Bevölkerung in Taiwan stammt von Siedlerinnen und Siedlern aus China im 17. und 18. Jahrhundert ab. Im chinesischen Kulturraum gibt es das Konzept des „gebildeten Edelmanns“, der die kaiserlichen Prüfungen bestanden hat. In den Prüfungen ging es vor allem um Kunst und Literatur. Nur diejenigen, die die kaiserlichen Prüfungen bestanden hatten, konnten eine gute Position in der Regierung bekommen. Diese Art, Männlichkeit durch akademischen Erfolg zu definieren, legt weniger Wert auf körperliche Stärke als im Westen.
Was ist in Taiwan heute ein „richtiger Mann“?
In Sachen Gleichstellung gilt Taiwan in Asien als Vorreiter. Bis vor kurzem war die taiwanische Gesellschaft aber noch sehr patriarchalisch. Und durch den Konflikt mit China ist die Idee von Männlichkeit in den letzten Jahrzehnten hier stärker kriegerisch aufgeladen worden. Ein Beispiel ist die Wehrpflicht: In Taiwan muss jeder Mann zur Armee gehen. Unter taiwanischen Männern ist die Vorstellung tief verwurzelt, dass man sich nicht als Mann bezeichnen kann, wenn man nicht beim Militär war.
Ein weiterer Aspekt ist beruflicher Erfolg und die Fähigkeit, für die eigene Familie finanziell zu sorgen. Diese Vorstellung ist auch mit unserer Geschichte japanischer Kolonialisierung verbunden. Taiwan war 50 Jahre lang eine japanische Kolonie, von 1895 bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Generation meiner Großeltern wuchs in dieser Zeit auf und erhielt eine japanische Bildung. Mein Großvater zum Beispiel bestand darauf, dass es – wie in Japan zu jener Zeit üblich – allein die Pflicht eines Mannes ist, arbeiten zu gehen, und dass der öffentliche Raum nur den Männern vorbehalten sein sollte.
Wie verhält sich diese Vorstellungen von Männlichkeit in Taiwan zu den Vorstellungen in anderen ostasiatischen Ländern?
In Japan sind die Geschlechterrollen von Männern und Frauen heute noch tiefer verankert als in Taiwan. Noch immer geben die meisten Frauen in Japan ihren Job auf, nachdem sie Kinder bekommen haben. Japan hat nur eine dominante ethnische Gruppe, und das Land ist einen eher isolierten historischen Weg gegangen. Taiwan wurde dagegen von verschiedenen Kulturen beeinflusst, und daher waren auch die Vorstellungen von Geschlecht offener für Veränderungen.
Männer in Japan stehen unter großem Druck. Vor einigen Jahren gab es ein viel diskutiertes Phänomen: Nach Feierabend lungerten viele Männer bis 22 Uhr im Park herum oder aßen lang mit Freunden zu Abend. Sie dachten, je später sie nach Hause kämen, desto erfolgreicher würden sie bei ihren Familien wirken. In Südkorea haben wir die Situation, dass das Land wie Taiwan früher von Japan kolonisiert wurde. Außerdem steht Südkorea im Konflikt mit Nordkorea. Deshalb müssen Männer in Südkorea grundsätzlich mindestens zwei Jahre lang zur Armee gehen. Die koreanische Gesellschaft fordert von Männern die körperliche Fähigkeit, ihr Land zu verteidigen. Und wie Japan und China hat Korea einen sehr starken Nationalismus, der auch eine Vorstellung von aggressiver Männlichkeit verstärken kann.
Vor einigen Jahren gab es in Südkorea große Proteste, hauptsächlich von Männern gegen Feministinnen.
Es begann alles mit einer kleinen Geste. (Prof. Lu hält Daumen und Zeigefinger einer Hand so zusammen, als wolle sie einen kleinen Abstand messen.) In Werbungen für Würstchen machten Frauen diese Geste, und viele koreanische Männer fühlten sich beleidigt: Sie meinten, dass die Geste darauf anspielen soll, dass sie kleine Penisse haben, und gingen auf die Straße – dabei hatten die Reklamen überhaupt nichts mit dem Thema Männlichkeit zu tun. Die Proteste waren teilweise sehr gewalttätig. Geschlechterkonflikte werden in der koreanischen Gesellschaft radikaler und gewalttätiger ausgetragen als in Taiwan.
Wie wird „asiatische Männlichkeit“ im Westen wahrgenommen?
Es gibt eine Theorie der Männlichkeit, die sich aus der kolonialen Erfahrung Indiens ableitet. Indien wurde von Großbritannien kolonisiert, und die Kolonialherren versuchten als Teil ihres Überlegenheitsdenkens durch körperliche Stärke und dominantes Auftreten zu zeigen, dass sie besonders männlich sind. Die Kolonisierten wurden dagegen als weniger männlich und als minderwertig angesehen. Bei Männlichkeit geht es oft um Dominanz, und in diesem Fall verband sich koloniale Unterdrückung mit der Idee, dass asiatische Männer angeblich weniger männlich sind.
Bis heute werden asiatische Männer in der westlichen Popkultur oft als weniger männlich dargestellt. In Hollywoodromanzen zum Beispiel treten sie eher selten als Hauptdarsteller auf, sondern eher als „Sidekicks“.
Und welchen Einfluss haben westliche Männlichkeitsbilder auf die taiwanische Gesellschaft?
Die Fitnesskultur ist definitiv ein westlicher Einfluss, die gab es in Taiwan zuvor nicht wirklich. Manche Taiwanerinnen und Taiwaner denken zudem aus den angesprochenen Gründen, dass „weiße Männer“ von Natur aus männlicher sind als asiatische Männer. Vor allem im Internet gibt es darum teils erbitterte Debatten. Manche männliche Nutzer sehen sich durch Frauen gekränkt, die eine Beziehung mit weißen Männern haben. Eine beleidigende Bezeichnung dafür ist chóngyáng mèiwài, was so viel heißt wie „blinder Glaube an ausländische Dinge“.
Westliche Männlichkeitsbilder führen teils auch dazu, dass Maskulinität in Taiwan noch enger definiert wird, weil traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und die westlichen gleichzeitig erfüllt werden müssen. Die taiwanesische Gesellschaft ist jedoch trotz allem sehr vielfältig, deswegen wirken westliche Männlichkeitsvorstellungen bei jedem Menschen unterschiedlich.
Taiwan war das erste asiatische Land, das die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat. Hat die relative Freiheit der LGBTQ-Community in Taiwan auch Einfluss auf die Vorstellungen von Männlichkeit?
Definitiv. LGBTQ-Kultur spielt eine Rolle dabei, die gesellschaftlichen Konzepte von Geschlecht zu verändern und insbesondere toxische Männlichkeit abzumildern. Ein Teil von toxischer Männlichkeit ist das starre Beharren darauf, wie Männer und Frauen zu sein haben und dass dies alles auf heterosexuellen Beziehungen basieren sollte. LGBTQ-Kultur steht überwiegend dafür, dass jeder Mensch so sein kann, wie er oder sie sein möchte.
In den letzten Jahren erleben wir in vielen Teilen der Welt mehr gewaltsame Konflikte und stärkeren Nationalismus. Was bedeutet das für die Zukunft der Männlichkeit, und wie geht speziell die Gesellschaft in Taiwan damit um?
In Taiwan gibt es die Bedrohung durch einen Krieg mit China. Bis jetzt sind aber nur Männer gezwungen, Militärdienst zu leisten, und das ist ein als ungerecht empfundener Druck für sie. Wir müssen nicht alle in den Kampf ziehen, aber meiner Meinung nach kann jeder Mensch auf eine Weise Verantwortung für die Sicherheit und Unabhängigkeit seines Landes übernehmen. Es gibt ja auch andere Risiken wie Erdbeben, auf die jeder vorbereitet sein sollte.
Aber die Lösung, in Taiwan und überall auf der Welt, besteht nicht darin, Ideen darüber zu verstärken, wie Männer und Frauen zu sein haben. Wir sollten vielmehr darüber nachdenken, wie jeder von uns, unabhängig vom Geschlecht, für sich und die Gesellschaft Verantwortung übernehmen kann.
Sheng-yen Lu ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Geschichte an der National Taiwan Normal University in Taipeh. Lu ist Autorin des auf Chinesisch erschienenen Buches „Toxic Masculinity“, das die Entwicklung gesellschaftlicher Vorstellungen von Männlichkeit untersucht. Sie forscht insbesondere dazu, wie westliche Konzepte von Männlichkeit die taiwanische Gesellschaft und die LGBTQ-Community beeinflussen.
Titelbild: Stefan Dotter / Connected Archives