Aber dann glitten seine Blicke im Ruck die Häuserfronten hoch ... Rutschen können die Dächer, wie Sand schräg herunter, wie ein Hut vom Kopf. Sind ja alle, ja alle schräg aufgestellt über den Dachstuhl, die ganze Reihe lang. Aber sie sind angenagelt, starke Balken drunter und dann die Dachpappe, Teer. Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein. Guten Morgen, Herr Biberkopf, wir gehen hier aufrecht, Brust heraus, Rücken steif, alter Junge, die Brunnenstraße lang.
* * *
Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1929 ist eine große Collage, ein Gewusel aus Texten verschiedenster Art, scheinbar spontan zusammenmontiert. Ein innerer Monolog geht über in das Geschrei der Straßenhändler, Bibelzitat steht neben Reklametext, Fetzen von Schlagerliedern werden eingestreut, Statistiken, tagesaktuelle Nachrichten, politische Reden und Auseinandersetzungen, Boulevardklatsch: Der Lärm der Großstadt findet ungefiltert Eingang in den Roman. Und während Döblin Szenen und Bilder bis zur vermeintlichen Zusammenhanglosigkeit schneidet und Text auf Text schichtet, entsteht in diesem Schreiben sein Berlin.
Erzählt wird Die Geschichte vom Franz Biberkopf, wie es der Untertitel des Romans bereits ankündigt. Biberkopf ist ein Mann aus einfachen Verhältnissen, im Grunde seines Herzens gutwillig und ehrlich. Am Anfang des Romans wird er aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich fest vorgenommen, von nun an „anständig“ zu sein, was ihm aber nur kurze Zeit gelingt, als Zeitungsverkäufer am Berliner Alexanderplatz. Schon bald aber lässt er sich wieder mit den falschen Leuten ein, gerät in kriminelle Machenschaften. Er versucht sich zu widersetzen, standhaft zu bleiben, er kämpft und verliert. Schließlich macht er doch bei einer Bande von Einbrechern mit, sucht sich außerdem eine „Braut“ und wird ihr Zuhälter. Das Geschehen spitzt sich zu, Franz verliert darüber den Verstand und kommt in eine Irrenanstalt.
Berlin ist in Döblins Roman allgegenwärtig. Die Großstadt nimmt eine Hauptrolle ein und ist letztlich Biberkopfs eigentliche Gegenspielerin, vor der und in der er sich behaupten muss. Franz läuft durch die Straßen der Stadt, sitzt in ihren Kneipen, schmeißt sich ins Gewühl – und ist nicht selten überfordert von all dem, was da auf ihn einprasselt. Jederzeit läuft er Gefahr, sich in der Hektik der Großstadt, dem Menschengewimmel, dem Straßenverkehr zu verirren. Der Leser kann das nachvollziehen, denn in ähnlicher Weise hat er damit zu kämpfen, in der geschriebenen Stadt, in dem Wirrwarr an Texten nicht die Orientierung zu verlieren.
Für ein paar Jahre war Berlin die drittgrößte Stadt der Welt
Diese Überforderung entspricht der Empfindung des Lebens im Moloch Berlin, um den sich in den 1920er-Jahren eine fast mystische Aura hüllt. Es sind gewaltige Veränderungen, die sich hier in dieser Zeit vollziehen: 1920 findet Berlin durch das Groß-Berlin-Gesetz, das umfangreiche Eingemeindungen durchsetzt, zu seiner heutigen Form. Auf diese Weise verdoppelt sich die Einwohnerzahl von zwei auf knapp vier Millionen, für einige Jahre war Berlin die nach London und New York drittgrößte Stadt der Welt, zudem größte Industriestadt Europas. Die Entwicklung von Wirtschaft, Industrie, Technik, Handel und Verkehr ist enorm.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 streifte die Stadt das strenge Korsett des Kaiserreichs ab, und es beginnt die Zeit der Weimarer Republik. Die festen Strukturen lockern sich, Demokratisierungsprozesse in der Gesellschaft werden angestoßen – es beginnen die Goldenen Zwanziger mit ihren Salons, Ballsälen und Kinopalästen, avantgardistischer Kunst und einer vorübergehenden Liberalisierung der Moral.
Der rasante Wandel und die Verunsicherungen der Moderne gehen aber auch mit sozialen Folgekosten einher: Radikale politische Strömungen haben Zulauf, auf den Straßen Berlins prügeln sich Kommunisten und Nationalsozialisten. Wohnungsnot, ein Leben in Mietskasernen und Hinterhöfen zeugen von der Verelendung eines großen Teils der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums.
Mit diesen Existenznöten sieht sich auch Alfred Döblin als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie tagtäglich konfrontiert. In seiner Praxis im Osten Berlins behandelt er vor allem Menschen aus Arbeiter- und Angestelltenkreisen. Es sind die Erfahrungen des Armenarztes, die ihn wohl maßgeblich zu „Berlin Alexanderplatz“ inspiriert haben. Dies und die Stadt Berlin selbst, über die er sagt, sie sei „der Mutterboden all meiner Gedanken“.
* * *
Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren ...
* * *
Einen deutlich leichteren Blick auf die Stadt hat der Schriftsteller, Übersetzer und Lektor Franz Hessel. In seinem ebenfalls 1929 erschienenen Buch „Ein Flaneur in Berlin“ versammelt er Texte über Berlin und über die Kunst, sich in der Großstadt treiben zu lassen.
Jeden Winkel von Berlin sucht Hessel auf. Schlendert durch Einkaufsstraßen, besichtigt Fabrikanlagen, drückt sich in Hinterhöfen herum, begibt sich in den rauen Berliner Osten und lässt sich von einer jungen Berlinerin in das Nachtleben mitnehmen mit seinen glamourösen Partys, den Kabaretts, den Jazz- und Tangoorchestern.
Seine Spaziergänge reichert Hessel mit Anekdoten und Erzählungen aus früheren Zeiten an. Er lässt abgerissene Gebäude wiederauferstehen, erinnert, wenn er vorm Berliner Stadtschloss steht, an die Revolutionstage von 1848, als Friedrich Wilhelm IV. auf dem Balkon erscheinen musste, um die zahllosen Bürgerleichen zu sehen, und dort vom tobenden Volk dazu gebracht wurde, seine Mütze abzunehmen, oder er gedenkt, den Landwehrkanal entlanglaufend, der Ermordung Rosa Luxemburgs, dieser „edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit dem Tod büßen musste.“
Der Philosoph Walter Benjamin sieht in seinem Freund Hessel einen wahren Flaneur, den letzten seiner Art. Flanieren, das bedeutet ziel- und zweckloses Schlendern, bedeutet auch Entschleunigung und ein aufmerksames Beobachten der Umgebung. Die betriebsamen Berliner schienen damit ihre Probleme zu haben. „Aber in Berlin geht man doch nicht spazieren“, soll nach einer von Hessel erzählten Anekdote eine junge Berlinerin gesagt haben, als ein Buchhändler ihr Hessels Buch schmackhaft machen wollte. Hessel stimmt ihr zu: „Man geht in Berlin nicht spazieren. Dazu hat man keine Zeit.“
Mit viel Liebe zum Detail und vor allem zu Berlin und den Berlinern und ihren Eigenheiten sind diese Texte geschrieben. Hessels Lust am Entdecken, seine feine Ironie, seine Fähigkeit, dem Leser das Gefühl zu geben, man würde mit ihm gemeinsam durch die Straßen Berlins schlendern, lässt die Lektüre zu einem wunderbaren Streifzug werden durch eine Stadt, die in den 1920er-Jahren eine der spannendsten der Welt war.
An diesen Erfolg konnte Döblin nie wieder anknüpfen
Mit der Machtübernahme der Nazis endete diese besondere Blütezeit Berlins. Seine Künstler und Intellektuellen – viele von ihnen, auch Döblin und Hessel, waren Juden – konnten nicht mehr frei arbeiten. Alfred Döblin, der sich auch offen zum Sozialismus bekannte, floh bereits 1933. Er schlug sich im Exil durch, war aber angewiesen auf finanzielle Hilfe und konnte nie wieder an den Erfolg von „Berlin Alexanderplatz“ anknüpfen.
Hessel konnte erst 1938 von seiner Frau und Freunden dazu überredet werden, aus seinem geliebten Berlin fortzugehen. Er floh nach Frankreich, wo er 1941 bei Kriegsbeginn als sogenannter feindlicher Ausländer im Lager „Les Milles“ für zwei Monate interniert wurde. 60-jährig starb er kurz nach seiner Entlassung an den Folgen der Haft. Hessels Werk geriet in Vergessenheit, und trotz einer zaghaften Wiederentdeckung seit den 1980er-Jahren sowie der großen Aufmerksamkeit, die 2010 dem Essay „Empört euch“ seines Sohns Stéphane widerfahren ist, bleibt Franz Hessel bis heute ein Geheimtipp.
* * *
Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschen, aber die Häuser standen gerade.