Lieber Nik,
wer wie ich in Ostdeutschland aufgewachsen ist, kann eigentlich nur schwer für Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen sein. Beim Wort „Überwachung“ horchen nicht nur meine Eltern auf. Zu sehr erinnert es an die DDR, in der Überwachung häufig mit dem Drang nach Sicherheit erklärt wurde. Letztendlich führte sie aber zur allumfassenden Beobachtung und Denunziation Unschuldiger durch die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit.
Aber: Die Zeiten haben sich geändert. Außerhalb von Diktaturen können öffentliche Orte durch mehr Kameras sicherer werden.
In der Debatte „Videoüberwachung: ja oder nein?“ geht es meist um zwei Aspekte: Sicherheit versus Freiheit. Das sind Begriffe, die emotional total überladen sind. Die Diskussion darüber wird deswegen auch viel zu sehr aus den eigenen Erfahrungen gespeist, und Gefühle spielen eine zu große Rolle. Wir müssen wieder rationaler argumentieren.
Die nackten Zahlen zeichnen übrigens ein klares Bild: Die Kriminologen Brandon Welsh und David Farrington analysierten 44 Studien zu Videoüberwachung. Sie kamen zu dem Schluss, dass die vielen Kameras für 51 Prozent weniger Verbrechen in Parkhäusern sorgen. Außerdem führten sie zu 23 Prozent weniger Delikten im öffentlichen Nahverkehr und zu immerhin sieben Prozent weniger in Stadtzentren. Und ich bin für weniger Verbrechen.
Viele Grüße,
Maria
„Öffentliche Orte können durch mehr Kameras sicherer werden.“
„Es gibt nicht einmal einen ordentlichen Aufschrei.“
Liebe Maria,
da haben sich ja die Richtigen zum Streitgespräch gefunden. Ich stamme aus der Sowjetunion – in der mein Vater drangsaliert wurde, weil er „verbotene Bücher“ las – und habe auch ein spezielles Verhältnis zum „Horch & Guck“-Staat. Aber es liegt nicht nur an meiner Herkunft, dass ich gegen mehr Videoüberwachung bin. Ich stimme dir zwar zu, dass die Zeiten sich geändert haben. Aber das Gleiche gilt noch viel mehr für die technischen Möglichkeiten.
Am Berliner Bahnhof Südkreuz soll demnächst eine „intelligente Videoüberwachung“ getestet werden. Dabei geht es um Kameras, die Gesichter erkennen und Verhaltensmuster deuten sollen. Wer wird unbefangen bleiben, wenn er weiß, dass jede seiner Bewegungen beurteilt wird? Früher wären solche Ideen noch als verschwörungstheoretische Hirngespinste abgestempelt worden. Nun wird all das wohl Realität – und es gibt noch nicht einmal einen ordentlichen Aufschrei.
Die Zahlen aus der Studie wirken beeindruckend, allerdings weißt du bestimmt auch, dass die meisten Statistiken darauf hindeuten, dass Kameras zwar zur Aufklärung von Verbrechen beitragen können, bisher aber selten zu deren Vorbeugung. Findest du nicht auch, dass wir erst eine erweiterte gesetzliche Zusicherung der Freiheitsrechte brauchen, eine Art Schutzbrief, der auflistet, was und wie nicht überwacht werden darf, bevor auch nur eine weitere Kamera aufgehängt wird?
Beste Grüße,
Nik
Lieber Nik,
du hast recht, Videoüberwachung dient auch laut Welsh und Farrington eher der Abschreckung bei kleineren Vergehen wie Diebstahl oder Sachbeschädigung. Selbstmordattentäter – ja, ich komme jetzt mit den härtesten Fällen – werden sich aus naheliegenden Gründen nicht durch ein paar Kameras aufhalten lassen. Im Nachhinein können jedoch schwere Verbrechen schnell aufgeklärt werden, wie das Bombenattentat beim Boston-Marathon. Kleine Straftaten werden also verhindert, große schneller aufgeklärt. Klingt doch gut, oder?
Im technischen Fortschritt sehe ich keine Gefahr, sondern eine Chance. Eine Studie des Sozialwissenschaftlers Dominic Kudlacek zur Akzeptanz von Videoüberwachung hat gezeigt, dass die Bevölkerung viel aufgeklärter über die Wirkung von Kameras ist, als wir vermuten. Eine plötzliche Angst vor ihnen und Zurückhaltung in ihrer Gegenwart scheinen mir unlogisch. Außerdem entstehen zurzeit transparente Überwachungssysteme, zum Beispiel am Fraunhofer-Institut: Über sein Handy soll jeder Interessierte herausfinden können, welche Daten eine Kamera erfasst und wer sie betreibt. So soll die Nützlichkeit verbessert werden und das Missbrauchsrisiko minimiert.
Deinen Schutzbrief für Freiheitsrechte finde ich gut, aber zu einfach gedacht. Jetzt schon regeln das Grundgesetz mit den allgemeinen Persönlichkeitsrechten und das Bundesdatenschutzgesetz, was nicht gefilmt werden darf. Dazu zählen unter anderem Umkleidekabinen, Duschen, Saunen, Toiletten, die meisten Arbeitsplätze und das Nachbargrundstück. Doch für viele ist diese Reglementierung nicht genug. Wo also die Grenze ziehen, was in diesen Schutzbrief aufgenommen wird und was nicht?
Fragt:
Maria
„Kleine Straftaten werden verhindert, große schneller aufgeklärt.“
„Wir marschieren in Richtung Überwachungsstaat.“
Liebe Maria,
so wie ich das sehe, ist der Nutzen von Videoüberwachung keineswegs belegt. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) beispielsweise weisen zwar stets darauf hin, dass es wegen der Kameras weniger Vandalismusschäden gebe. Aber Studien zu diesem Thema sind rar, obwohl viele sie fordern, zuletzt die Piraten.
Als die Forscher Leon Hempel und Christian Alisch 2006 feststellten, dass die Kameras keine erhebliche Verbesserung der Sicherheitslage auf den untersuchten Linien des öffentlichen Nahverkehrs erbringen würden, stellte die BVG die laufende Studie der beiden ein.
Für mich ist unsere Streitfrage aber tatsächlich keine, die mit Statistiken und Zahlen vollständig zu beantworten wäre. Ja, es ist ein emotionales Thema – und auch in gewissem Sinne eine Glaubensfrage.
Gerade die Terrorangst sowie der gesetzliche Flickenteppich in Deutschland sorgen dafür, dass wir in großen Schritten immer mehr in Richtung Überwachungsstaat marschieren. Wenn dem BND bei der Affäre um die Überwachungsmaschine NSA möglicherweise verbotene Praktiken nachgewiesen werden sollten – ich weiß, auch das ist ein harter Fall –, dann werden Gesetze angepasst, die diese Praktiken legitimieren. Bei alledem geht es meiner Meinung nach seit vielen Jahren immer nur in eine Richtung.
Ich vermisse ein Stoppschild. Das Bundesdatenschutzgesetz und andere Regelungen wirken für mich wie mobile Aufsteller, die nach Belieben weiter nach hinten geschubst werden auf dem Weg zu George Orwells Roman „1984“.
Skeptisch:
Nik
Lieber Nik,
gut, lassen wir die Statistiken beiseite. Sie liefern kein genaues Bild der Situation und sind von dir und mir in die eine oder andere Richtung interpretierbar. Also zurück zu den Emotionen:
Da geht es auf der einen Seite um das Gefühl der subjektiven Sicherheit: Ich denke, wenn Kameras nur einem Menschen das Gefühl geben können, nachts in einem U-Bahnhof sicherer zu sein, dann hat Videoüberwachung ihre Berechtigung. Und auch wenn nur ein Verbrechen mehr durch Kameras aufgeklärt werden kann, finde ich die Aufzeichnungen gerechtfertigt.
Auf der anderen Seite geht es um das Gefühl des Überwachtwerdens, über das wir schon gesprochen haben. Dabei meine ich, dass die Leute Facebook oder Google bisher extrem furcht- und schamlos nutzen. Es ist kein Geheimnis, dass wir hier unsere Daten abgeben und intime Geheimnisse offenbaren. Wer sich bei Videokameras befangen fühlt, möge bitte prüfen, ob er hier nicht mit zweierlei Maß misst.
Und zu guter Letzt: Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Videokameras nicht zu installieren, aus der Angst, dass damit Missbrauch betrieben werden könnte, halte ich für falsch. Horrorszenarien zu entwerfen und bei jeder Diskussion über Datenschutz auf George Orwells „1984“ zurückzukommen übrigens auch. Vielleicht besprechen wir das noch mal bei einem Bier.
Liebe Grüße aus Leipzig!
Maria
„Wer sich bei Videokameras befangen fühlt, möge bitte prüfen, ob er hier nicht mit zweierlei Maß misst.“
„Wir laufen Gefahr, nur den technischen Tatsachen hinterherzuhecheln.“
Liebe Maria,
ich glaube, jede Debatte über einen wichtigen Gegenstand kommt irgendwann auf der emotionalen Ebene an. Es ist also nur zu konsequent, dass auch wir dort gelandet sind.
Für mich berührt die Frage nach mehr oder weniger Videoüberwachung ein übergeordnetes Problem: Eine auf Konsens ausgelegte demokratische Gesellschaft trifft Entscheidungen per se eher langsam. Und die Fragmentierung unserer Gesellschaft führt dazu, dass es immer mehr Interessen und Parteien gibt, was es noch schwerer macht, sich zügig zu verständigen.
Da sich der technische Fortschritt gleichzeitig beschleunigt, sehe ich die Gefahr, dass wir in einem Überwachungsstaat aufwachen, noch bevor wir uns darauf einigen können, dass wir einen solchen ja eigentlich ablehnen. Die von dir erwähnten Facebook & Co. machen das übrigens geschickt vor: Sie ignorieren deutsche Datenschutzgesetze und schaffen neue Realitäten.
Auch der demokratische Prozess läuft Gefahr, nur den technischen Tatsachen hinterherzuhecheln. Deshalb müssen wir jetzt entschieden einhaken, um die geltenden Normen der persönlichen Freiheiten zu wahren.
Dein Angebot mit dem Bier nehme ich gerne an.
Beste Grüße aus Berlin,
Nik
Illustrationen: Renke Brandt, Foto Maria: Uli Reinhardt, Foto Nik: Shoreesh Fezoni