Was ist bei diesen Wahlen anders?
2017 stimmte die Mehrheit der Wahlberechtigten in einem Referendum für ein neues Präsidialsystem. Durch dieses erhält der Präsident viele Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse, die zuvor etwa beim Ministerpräsidenten oder beim Parlament lagen. Der Posten des Ministerpräsidenten wird gänzlich abgeschafft, das Parlament bleibt bestehen, verliert aber deutlich an Macht. Dass Parlament und Präsident gleichzeitig gewählt werden, ist auch neu.
Welche Kandidaten haben Chancen auf die Präsidentschaft?
Es gibt vier relevante Kandidaten: der bisherige Staatspräsident und Parteivorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Recep Tayyip Erdoğan, Muharrem İnce, der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP), Meral Akşener, die Parteivorsitzende der neuen Guten Partei (IP), und Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP).
Wofür stehen die Kandidaten?
Recep Tayyip Erdoğan wird unterstützt durch eine Allianz der Regierungspartei AKP mit der türkisch-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und steht für die Fortsetzung der bisherigen türkischen Regierungspolitik. Dies bedeutet die Einführung des – von vielen als autokratisch kritisierten – Präsidialsystems, Unterdrückung der Opposition, Verletzung von Menschenrechten, Offensiven in den kurdischen Gebieten der Türkei, Militärinterventionen in Nordsyrien und im Nordirak sowie einen EU-kritischen Kurs, der auf wirtschaftliche und nationale Stärke auch jenseits europäischer Partner setzt. Erdoğan verspricht seinem Volk Stabilität. In den Umfragen liegt er bei etwa 40 Prozent der Stimmen.
Muharrem İnce von der säkularen CHP wird als ein Kompromisskandidat der Erdoğan-GegnerInnen in der politischen Mitte gehandelt. İnce erreicht nicht nur die WählerInnen der eigenen Partei, sondern gilt sowohl für rechte, konservative als auch liberale und linke WählerInnen als eine realistische Alternative zu Erdoğan. Darüber hinaus hat es İnce geschafft, mit der HDP, die mehr Rechte für die kurdische Minderheit fordert, Gespräche aufzunehmen und so eine Unterstützung der HDP bei der wahrscheinlichen Stichwahl im Juli 2018 zu sichern. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl könnte İnce etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten und würde damit in der Stichwahl gegen Erdoğan kandidieren. Das Präsidialsystem will er gleich wieder abschaffen, den Ausnahmezustand aufheben und für bessere Bildung sorgen.
Meral Akşener von der IYI-Partei wurde zu Beginn des Wahlkampfs als die Favoritin auf der Oppositionsseite gehandelt, gerade weil sie die gleichen Wählergruppen wie Erdoğan anspricht: rechts, nationalistisch, konservativ. Aber sie hat, im Gegensatz zu Muharrem İnce, keine großen Chancen bei den liberalen, linken und kurdischen WählerInnen. Wie alle OppositionskandidatInnen verspricht sie eine Rückkehr zum parlamentarischen System, und außerdem: mehr Rechtsstaatlichkeit und eine wiederhergestellte Meinungsfreiheit. Inzwischen liegt Akşener bei den Umfragen nur noch bei etwa 12 Prozent der Stimmen und würde damit nicht in die zweite Runde kommen.
Selahattin Demirtaş kandiert für die HDP aus dem Gefängnis heraus, wodurch seine Möglichkeiten, Wahlkampf zu betreiben, stark eingeschränkt sind. Weil die übrigen KandidatInnen sich – vereinfacht ausgedrückt – eher im rechten Spielfeld befinden, könnte Demirtaş das prokurdische Lager und auch darüber hinausgehende Teile des linken Lagers für sich gewinnen. Auch die HDP lehnt das Präsidialsystem ab. Was sie von vielen anderen Parteien unterscheidet, ist der linksgerichtete Anspruch, die Türkei im Sinne einer vielfältigen Demokratie mit gleichen Rechten für verschiedene Bevölkerungsgruppen auszubauen. Vor allem die AKP und die MHP werfen einzelnen Parteimitgliedern jedoch vor, sich nicht genügend von der als Terrororganisation verbotenen PKK zu distanzieren. Demirtaş bleibt bei den Umfragen unter 15 Prozent der Stimmen und wird demzufolge für die Stichwahl ebenfalls nicht kandidieren können.
Wie wird sich das Parlament zusammensetzen?
Die Parlamentswahlen verlaufen diesmal deutlich anders als bei den vorherigen Wahlen. In der Türkei existiert eine Sperrklausel von 10 Prozent, wodurch kleinere Parteien bisher keine Chance hatten, ins Parlament zu ziehen. Für die jetzige Wahl wurden die Wahlgesetze verändert: Mehrere Parteien können eine gemeinsame Wahlliste bilden. Nun reicht es aus, wenn die Wahlliste insgesamt über 10 Prozent kommt – jede Partei erhält dann entsprechend ihrer Stimmenanteile eine bestimmte Anzahl an Sitzen.
Welche Wahllisten spielen eine Rolle?
Die Regierungspartei AKP bildet gemeinsam mit der MHP die „Volksallianz“-Wahlliste. Sie liegt bei den aktuellen Umfragen zwischen 45 Prozent und 52 Prozent der Stimmen. Das „Bündnis der Nation“ – die Wahlliste der Opposition – besteht aus CHP, IYI und der islamistischen Saadet-Partei. Das „Bündnis der Nation“ könnte etwa 40 Prozent der Stimmen erhalten. Die HDP muss dagegen alleine antreten, weil die IYI-Partei verhindert hatte, dass die HDP an der Oppositionsliste teilnahm. Die rechte und türkisch-nationalistische IYI-Partei sieht die HDP, die sich insbesondere für die Interessen der Kurden und anderer Minderheiten einsetzt, als politische Gegnerin. Laut den Umfragen liegt die HDP zwischen 10 und 13 Prozent der Stimmen.
Was passiert nach den Wahlen?
Nach den aktuellen Umfragen sind zwei Szenarien wahrscheinlich und ein drittes eher unwahrscheinlich. Im ersten Szenario gewinnt Erdoğan die Stichwahl und wird zum Präsidenten gewählt. Gleichzeitig siegt in der Parlamentswahl die Opposition und erhält eine Mehrheit im Parlament. Dann würden sich der Präsident und das Parlament gegenseitig blockieren, und Neuwahlen wären sehr wahrscheinlich. Das zweite Szenario wäre, dass sowohl Erdoğan als auch die „Volksallianz“-Wahlliste in den jeweiligen Wahlen siegen. Damit hätte Erdoğan sowohl die Befugnisse als auch die sichtbar gewordene Unterstützung der türkischen WählerInnen, seinen Kurs weiterzuverfolgen. Auch das harsche Vorgehen gegen die PKK und KurdInnen würde höchstwahrscheinlich fortgesetzt werden. Im dritten Szenario, das deutlich unwahrscheinlicher ist, gewinnt Muharrem İnce die Präsidentschaftswahl und das „Bündnis der Nation“ die Parlamentswahl, sodass das Land zum ersten Mal seit 16 Jahren weder von Erdoğan noch von der AKP dominiert würde. Die Einführung des Präsidialsystems könnte dann wieder rückgängig gemacht werden.
Mehr zu den Wahlen in der Türkei:
http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253181/das-neue-politische-system-der-tuerkei
Titelbild: YASIN AKGUL/AFP/Getty Images, Portraits: picture-alliance / dpa