fluter.de: Was genau macht P24?
Evin Barış Altıntaş: Wir gründeten diese Plattform Ende 2013, nach den Gezi-Protesten. Ursprünglich ging es uns darum, unabhängigen Journalismus in der Türkei zu unterstützen. Mittlerweile aber, nachdem so viele Medien geschlossen wurden, helfen wir in erster Linie unabhängigen Journalisten, die im Gefängnis sitzen.
Wie viele oppositionelle Medien gibt es derzeit in der Türkei?
Nicht mehr viele. 70 Prozent der türkischen Bevölkerung informieren sich über das Fernsehen – dort werden 90 Prozent der Kanäle mehr oder weniger von der Regierung kontrolliert. Nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr wurden viele Zeitungen geschlossen oder finanziell unter Druck gesetzt.
„Vor dem Putschversuch waren ungefähr 30 Journalisten in Haft – diese Zahl ist auf 150 angestiegen“
Wie genau sieht die Unterstützung aus?
Viele unserer Aktivitäten drehen sich um Aus- und Weiterbildung. Wir geben Seminare und Workshops für Studenten. Früher konnten wir das auf dem Campus tun, mittlerweile ist das nicht mehr möglich.
Einzelne Journalisten unterstützen wir in erster Linie rechtlich. Im vergangenen Mai haben wir unseren ersten Anwalt angestellt. Mittlerweile beschäftigen wir sechs – zwei in Vollzeit und vier weitere, die sich um inhaftierte Journalisten kümmern. Das Problem ist: Sobald jemand in Haft ist, wird alles viel schwieriger. Normalerweise darf man jemanden nur einmal die Woche besuchen, die Zeit ist knapp, und die Gefängnisse liegen oft weit außerhalb der Städte.
In der Nacht zum 16. Juli 2016 kam es in der Türkei durch eine Gruppe von Militärangehörigen zu einem Putschversuch. Die Regierung unter der Führung Recep Tayyip Erdoğans beschuldigte kurz darauf die Gülen-Bewegung, hinter dem Umsturzversuch zu stecken. Die türkische Regierung bezeichnete sie danach als „Fethullahistische Terrororganisation“, kurz FETÖ. Fethullah Gülen, der Kopf der Bewegung, bestreitet die Vorwürfe. Die Gülen-Bewegung steht vordergründig für einen moderaten Islam ein und unterhält in mehreren Ländern Bildungseinrichtungen, sogenannte „Lichthäuser“. Kritiker werfen der Bewegung sektenähnliche Strukturen vor und bezeichnen Gülen als islamistischen Ideologen. Der ging 1999 in die USA, als gegen ihn ein Prozess wegen Ausnutzung der Religion für politische Zwecke eröffnet wurde. Dort lebt er seitdem. Lange Zeit kämpften Gülen und Erdoğan gemeinsam dafür, in der Türkei die Vorherrschaft der kemalistischen Eliten zu beseitigen. 2013 kam es zum Bruch zwischen ihnen.
Erdoğan beschuldigt die Gülen-Anhänger, den Staat systematisch unterwandert zu haben. Über 100.000 Lehrer, Journalisten, Richter und Soldaten wurden nach dem 16. Juli verhaftet oder von ihrer Arbeit suspendiert. Das Sprachrohr der Bewegung, die auflagenstärkste Zeitung des Landes „Zaman“, wurde 2016 geschlossen. Beobachter werfen der Regierung vor, nicht nur gegen vermeintliche Gülen-Anhänger vorzugehen, sondern jegliche Kritiker mundtot zu machen. Allerdings wurde auch der Gülen-Bewegung vorgeworfen, dass sie vor ihrem Verbot rigoros gegen kritische Journalisten vorgegangen sei. Erdoğan verhängte kurz nach dem Putschversuch den Ausnahmezustand und regiert das Land seitdem mit Notstandsdekreten. Am 16. April 2017 sollen die Türken über eine neue Verfassung abstimmen. Das neue Präsidialsystem soll das Land laut der türkischen Regierung regierbarer machen. In jedem Fall würde es Erdoğan noch mehr Macht geben.
Wie viele türkische Journalisten befinden sich mittlerweile in Haft?
Vor dem Putschversuch waren es ungefähr 30 – diese Zahl ist nach unserer Zählung auf bis zu 150 angestiegen. Von vielen dieser Fälle hört man nichts in den Nachrichten. Wir erfahren erst davon, wenn uns ihre Familien anrufen.
Ihnen allen wird Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung vorgeworfen?
Hauptsächlich, aber nicht nur. Andere Organisationen sind die PKK, die linksradikale DHKP/C (beide von der deutschen Regierung offiziell als verfassungsfeindlich eingestuft – Anmerkung der Redaktion) oder sogar Hackergruppen wie Redhack. Die haben E-Mails veröffentlicht, die den Energieminister, der auch Erdoğans Schwiegersohn ist, in Bedrängnis brachten.
Wie genau lauten die Vorwürfe?
Vor dem Putschversuch ging es vor allem um Präsidentenbeleidigung. Jetzt handelt es sich in erster Linie um „Terrorpropaganda“ oder die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Genau das wird ja auch dem deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel vorgeworfen.
Wie hoch ist das Strafmaß in solchen Fällen?
Das wissen wir noch nicht, da es sich oft um Präzedenzfälle handelt. Oftmals ist die Anklageerhebung auch noch gar nicht abgeschlossen. So etwas gab es vorher noch nicht. Aber aufgrund der Gerichtsentscheidungen, die Angeklagten in Untersuchungshaft zu lassen, müssen wir mit hohen Strafen rechnen – bis zu mehrfach lebenslänglich.
„Ich würde nicht von Selbstzensur sprechen, aber viele Kollegen sind inzwischen sehr sorgfältig geworden“
Wie viel Vertrauen haben Sie in die Gerichte?
Wir müssen abwarten, bis die Prozesse begonnen haben. Im Moment hoffen wir vor allem, dass die Beweisaufnahme korrekt vonstattengeht. Es gibt allerdings Umfragen, denen zufolge das Vertrauen in die Justiz einen Tiefpunkt erreicht hat.
Inwiefern beeinträchtigen die Verhaftungen auch jene Journalisten, die noch auf freiem Fuß sind?
Ich würde nicht von Selbstzensur sprechen, aber viele Kollegen sind inzwischen sehr sorgfältig geworden. Manche Kolumnisten lassen ihre Texte auch vorher von einem Anwalt lesen. Andere sind emigriert – nicht wenige davon nach Deutschland.
Was genau zählt als Präsidentenbeleidigung?
Das können viele Dinge sein: sich über ihn lustig machen, ihn einen Esel nennen. Jemand verglich ihn mal mit einer Figur aus „Herr der Ringe“ – das reichte aus.
Was ist das größere Bild hinter diesen Verhaftungen?
Seit dem Putschversuch findet ein Kampf gegen die türkische Zivilgesellschaft statt. Rund 1.200 NGOs wurden geschlossen, viele davon setzten sich für Frauenrechte ein. Es sind kaum mehr kritische Medien übrig in der Türkei.
„Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag“
Am 16. April findet in der Türkei ein Referendum über eine Verfassungsänderung statt. Wie sieht das Best-Case-Szenario aus?
Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das kann auch eine neue Verfassung sein. Nur sollte sie nicht einem Mann noch mehr Macht geben. Unsere Gesellschaft ist tief gespalten. Nötig ist ein neues politisches Klima, in dem wir darüber sprechen können, welchen Weg dieses Land nehmen soll.
Wie kann das Ausland helfen?
Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Ausländische Regierungen können weiterhin die diplomatischen Kanäle nutzen, um spezifische Probleme anzusprechen. Eine wichtige Rolle spielt noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dort stapeln sich die Fälle aus der Türkei hinsichtlich der Festnahmen und Maßnahmen des Ausnahmezustands.
Titelbild: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif