Nachts in einer US-amerikanischen Kleinstadt. Eine Gruppe junger Männer prügelt sich vor einer Veranda. Schreie. Plötzlich kommt ein alter Mann mit wutverzerrtem Gesicht aus dem Haus und hält ihnen eine doppelläufige Flinte ins Gesicht.

„Runter von meinem Rasen!“

„Spinnst du total? Geh wieder rein!“

„Ja, ich puste dir ein Loch in die Fresse! Und dann geh ich wieder rein und schlafe wie ein Baby!“

Filmszenen wie diese aus „Gran Torino“ sind in vielen Hollywood-Produktionen zu sehen. Aus der Luft gegriffen sind sie nicht. Der Small Arms Survey schätzt, dass 270 Millionen Schusswaffen in den USA in zivilen Händen sind, so viele wie in keinem anderen der 40 untersuchten Länder.

Schon der zweite Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1791 garantiert den Besitz und das Tragen von Schusswaffen. Ob jeder Bürger dieses Recht hat oder nur Militärangehörige und welche Waffen es betrifft, wird immer wieder heiß diskutiert. 2008 und 2010 hat der Supreme Court geurteilt: Ja, legale Schusswaffen dürfen zur Selbstverteidigung bereitgehalten werden.

Ansonsten ist das US-amerikanische Waffenrecht von den vielen Zusatzbestimmungen der Bundesstaaten, Bezirke und Gemeinden geprägt. Es gibt zum Beispiel sogenannte „Stand Your Ground Laws“ („nicht von der Stelle weichen“), die von Lobbyisten der National Rifle Association (NRA) mit angeschoben wurden. Demnach gilt mit Abstufungen: Wer von jemandem angegriffen wird oder sich bedroht fühlt, darf ihn direkt erschießen. Zuerst hat Florida vor rund neun Jahren ein solches Gesetz in den Katalog aufgenommen, heute findet man sie in fast der Hälfte der US-Bundesstaaten. Noch vor ein paar Monaten erschoss ein Mann in Montana einen 17-jährigen Austauschschüler aus Hamburg, der angeblich in seiner Garage etwas gesucht hatte.

Sich nicht auf die staatlichen Eliten verlassen

Die Waffengesetze in den USA basieren auf dem historisch gewachsenen Verständnis, dass die Bürgerinnen und Bürger sich und ihren Besitz selbst verteidigen dürfen. Und zwar möglichst effektiv – also mit Waffen. Nicht der staatlichen Elite allein soll diese Macht zuteilwerden. Diese könnte sich ja auch mal gegen die Bürger richten.

Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Gründungsphase der Staaten: Die Urgesetzgebung ist englisch beeinflusst. Die legendäre englische „Bill of Rights“ aus dem Jahr 1689 gilt als Meilenstein zu einem parlamentarisierten Staat. Sie steckt nicht nur die Rechte des britischen Parlaments gegenüber dem Königtum ab, sondern macht auch den Waffenbesitz zum Bürgerrecht. Volksbewaffnung ist also auf der einen Seite als Abwehrrecht gegen herrschaftliche Willkür und Tyrannei zu verstehen. Auf der anderen Seite kann eine bewaffnete Bevölkerung auch dort für Sicherheit sorgen, wo Berufssoldaten und Polizei nicht ausreichen – zum Beispiel in dünn besiedelten Staaten wie damals in den USA.

 

Wenn man sich Länder ansieht, in denen viele Menschen Gewehre und Pistolen zu Hause haben, muss man unterscheiden zwischen der privatrechtlichen Dimension und der sicherheitspolitischen. Einige Staaten rekrutieren bei Bedarf Teile der Bevölkerung für das Militär, zum Beispiel für Milizeinheiten. Privat geht es jedoch darum, wer aus der normalen Bevölkerung „nur für sich“ Waffen besitzen darf und warum. In vielen Ländern steht, wie in den USA, der Selbstverteidigungsgedanke im Vordergrund, in anderen – wie zum Beispiel Finnland – geht es mehr um Traditionen wie Jagd und Sport. 

Auch die Schweiz steht laut dem Small Arms Survey weit oben auf der Liste der Pro-Kopf-Waffen: Auf die gut acht Millionen Einwohner kommen hier etwa 3,4 Millionen Gewehre und Pistolen – so genau weiß man es nicht. Rein statistisch hat damit jeder Haushalt mindestens eine Waffe.

Einer der vielen Waffenbesitzer ist Benjamin Baumgartner, Sportschütze und Sammler. In seinem Waffenschrank im Keller verwahrt der 31-Jährige rund 20 Gewehre, Pistolen und Revolver. Manche sind so alt und wertvoll, dass man mit ihnen am besten keinen Schuss mehr abgibt. Es ist nicht schwer, in der Schweiz an Waffen zu kommen, auch wenn das Waffengesetz 2008 verschärft wurde. Volljährigen Schweizern, die nichts verbrochen haben, stellt der zuständige Kanton in der Regel einen Waffenerwerbsschein aus. Um Jagdwaffen oder einschüssige Gewehre zu kaufen, ist noch nicht einmal dieser Erwerbsschein notwendig. In der Schweiz gibt es rund 200.000 Sportschützen wie Baumgartner. 

Aber nicht alle Schweizer Waffenbesitzer sind auch ausgemachte Waffenfans. Die Schweizer Armee beruht, wie auch das Parlament, auf dem Milizsystem: Sie besteht größtenteils aus Wehrdienstpflichtigen, die einen zivilen Job haben und nebenberuflich Soldaten sind, die über mehrere Wochen zumindest eine Grundausbildung, die Rekrutenschule, absolviert haben. Es handelt sich nicht um ein stehendes Heer. Wer hier Dienst leistet, muss seine persönliche Waffe zu Hause aufbewahren und kann sie am Ende der Wehrpflicht unter bestimmten Voraussetzungen behalten.

„Auch ich habe hier, wo ich jetzt sitze, in Griffnähe meine alte Pistole“‚ sagt Rudolf Jaun, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit und Militärgeschichte an der Uni Zürich. Funktional ließe sich nach seiner Einschätzung die sogenannte „Heimaufbewahrung“ nicht mehr begründen. „Man hat lange gesagt: Solange es den Warschauer Pakt gibt, müssen wir schnell mobilisieren können. Jeder Wehrmann hatte 20 Schuss Taschenmunition zu Hause, mit der Idee, dass er vielleicht schon in einen Kampf verwickelt wird, bis er den Mobilmachungsplatz erreicht.“ Doch der Warschauer Pakt ist – wie die Sowjetunion – Geschichte. Und Munition wird seit ein paar Jahren auch nicht mehr mit der Dienstwaffe ausgegeben – wenngleich diese laut Jaun „einfach zu beschaffen“ ist.

Also wozu das Ganze? Auch Waffensammler Baumgartner bezweifelt, dass es heute noch sinnvoll ist, Armeewaffen zu Hause aufzubewahren, aber für ihn gehören die Waffen „aus Tradition zur Schweiz“. So wie er denken womöglich viele. Die Volksinitiative „Für den Schutz vor Waffengewalt“ wollte die Heimaufbewahrung verbieten und das Waffenrecht verschärfen. Zu viele Suizide und Familienunglücke würden mit Waffen begangen, die eigentlich gar nicht im Haus sein müssten. Die Gegner der Initiative sagten: Wer Böses plant, wird das so oder so umsetzen. Im Februar 2011 lehnte das Volk – der Empfehlung von Bundesrat und Parlament folgend – das Vorhaben mit insgesamt 56 Prozent der Stimmen ab. „Die Milizarmee, die Heimaufbewahrung der persönlichen Waffe, das ganze Schützenwesen ist heute ein Bestandteil der Swissness. Das zeichnet die Schweizer aus, gerade in Zeiten der Globalisierung“, sagt Geschichtsprofessor Jaun. 

Wer heiraten wollte, musste bewaffnet sein

Schon vor rund 300 Jahren hatten einige eidgenössische Orte wie Bern und Schaffhausen die Regelung eingeführt, dass Männer, die heiraten wollten, erst nachweisen mussten, dass sie militärisch ausgerüstet waren. Dazu gehörte auch ein Gewehr. So richtig ideologisch und militärisch wurde es dann im 19. Jahrhundert, als sich die Schweiz als frischgebackene Nation gegen Großmächte behaupten wollte und eine Milizarmee aufbaute. Die Waffen bekamen die Wehrpflichtigen gratis. „Dieser Gedanke, dieser Mythos, dass die Gewalt im staatsrechtlichen Sinn dann beim Volk liegt, hat da stark reingespielt, neben dem Anspruch, in einem durch das Volk getragenen Verteidigungskriege zu bestehen“, sagt Jaun.

Und dann gibt es noch Wilhelm Tell: „Der ist doch das Ursymbol des guten Schützen, der sich gegen den österreichisch-habsburgischen Tyrannen durchsetzt – indem er ihn erschießt.“ Baumgartner bestätigt das: „Irgendwo ist die Waffe für uns immer ein Symbol der Freiheit gewesen und hat unsere Geschichte geprägt“, meint er. „Wenn nur eine Handvoll Leute Waffen besitzt, weiß man, die könnten einem immer etwas antun und dann kann man sich nicht wehren; bei uns muss man aber damit rechnen, dass einer zurückschießt.“ 

In Deutschland hätte es übrigens ähnlich laufen können. Auch hier war der Waffenbesitz, besonders zur Jagd, lange Zeit sehr liberal geregelt. Während der Märzrevolution 1848 wurden dann auch Forderungen nach einer Volksbewaffnung laut. Besonders der Offizier Wilhelm Rüstow trat für die Volkswehr ein. Hier haben die Mächtigen die Waffengewalt jedoch nicht mit der breiten Bevölkerung teilen wollen. Rüstow wurde zu einer langen Festungshaft verurteilt – und setzte seine Ideen dann im Schweizer Exil um. 

Fotos: Mark Peterson/Redux/laif