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Wahlverwandtschaften

Hab ich’s mir zu einfach gemacht – und meinen Eltern einfach nachgewählt? Unser Autor fragt sich, wer bisher eigentlich seine Wahlentscheidung getroffen hat

Wahlkabinen

Kurz vor meiner ersten Wahl habe ich mich plötzlich wieder gefühlt wie damals, als ich mit meinem Schulteam um die deutsche Rugbymeisterschaft gespielt habe. Wir hatten hart auf das Finale hin trainiert, wochenlang um die Rückennummern auf den Trikots mit dem Logo unserer Schule gefeilscht und auf der mehrstündigen Busfahrt nach Essen mögliche Spielzüge durchchoreografiert. Unsere Trainerin thronte vorn rechts neben dem Fahrer wie eine Kriegsherrin. Und tatsächlich: Wir gewannen.

Ehrlicherweise sei gesagt, dass wir nur gegen eine Schule spielen mussten. Dass es keinen mannshohen Pokal gab, sondern einen Wimpel mit der Deutschlandflagge und unser Mannschaftsfoto in der Aula. In der Schule hat keiner was davon mitbekommen. Aber verdammt, waren wir stolz. 

Das sollte sie gewesen sein, meine erste Wahl, zwei kurze Kreuze?

So gesehen war es gut, dass ich die schnelle Abfolge von Stolz, Anspannung und Ernüchterung schon kannte, als ich zum ersten Mal wählen ging. Denn meine erste Wahl verlief so unspektakulär wie unser Rugbyfinale: Ich wartete mit meinen Eltern in der Schlange. Dann war ich dran, mein Name wurde abgehakt, und ich durfte mit dem Zettel in die Kabine. Danach habe ich meine Eltern gefragt, warum niemand sehen soll, was ich wähle. Manchen Leuten sei ihre Wahlentscheidung peinlich, sagten sie. Und dass es im Gegensatz zu Deutschland Länder gebe, in denen man besser nur die eine Partei wählt, wenn man nicht weggesperrt werden will. Dann gingen wir nach Hause.

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Das sollte sie gewesen sein, meine erste Wahl? Zwei kurze Kreuze, nachdem sie uns in der Schule über Monate auf die Wahl eingeschworen hatten? Wir die Parteien kennengelernt, Wahlprogramme verglichen, Bundestag und Bundesrat voneinander getrennt und das Für und Wider der Briefwahl besprochen hatten? Wir sogar ausnahmsweise mal in den Computerraum der Schule gelassen wurden, um über den Wahl-O-Mat unsere Partei zu ermitteln? Mein Hirn hat viele Wahlerinnerungen überschrieben, aus Selbstschutz womöglich oder damit ich die nächste Wahl nicht auslasse. Aber an die Empfehlungen des Wahl-O-Mat erinnere ich mich bis heute: Linke, SPD oder Grüne sollten meine Interessen angeblich am besten vertreten.

Weil wir damals im Deutschunterricht an einem Schreibwettbewerb teilnahmen, bei dem es um den Regenwald ging, schien mir das Überleben des Orang-Utans wichtiger als ein höherer Mindestlohn oder sinkende Mieten. So wie ich mir mein Leben damals ausmalte, würde ich von beidem eh kaum profitieren: Ich wollte Künstler werden. Die verdienen sowieso nichts, dachte ich, und fand das auch gut so. Außerdem hatte mir meine Mutter von der Partei, zu der sie mir dann schlussendlich riet, erzählt, dass sie zwar schon mal mitregiert, aber noch nie eine Bundestagswahl gewonnen hatte. Das fand ich cool. Ich hasste damals schon Bayern-Fans und fand Kevin Kurányi cool, der gleich drei Peinlichkeiten vereinte: Er spielte für Schalke, trug ein komisches Bärtchen und war in der Nutella-Werbung. Dass ich eher für die Underdogs bin, wusste meine Mutter natürlich. Wenn man sich’s genau besieht, fand die Beeinflussung durch mein Elternhaus damals ihren Höhepunkt. 

Eltern haben scheinbar mehr Einfluss auf die Wahlentscheidung als Freunde oder die Schule

Wie Eltern auf das Wahlverhalten ihrer Kinder einwirken, scheint Wahlforscher schon lange zu interessieren: Das sogenannte Michigan-Modell aus den 50er-Jahren ist bis heute eine der meistzitierten Veröffentlichungen der Wahlforschung. Damals wiesen Forscher in den USA empirisch nach, dass Eltern ihren Kindern nicht nur ihren krummen Rücken oder einen guten Musikgeschmack vererben, sondern auch eine Parteienidentifikation. Wenn wie in den USA nur zwei Parteien wirklich zur Wahl stehen, ist es natürlich wahrscheinlicher, dass ich wähle wie meine Eltern. Viele Studien für den deutschsprachigen Raum kommen aber zu ähnlichen Ergebnissen.

Schon die allerersten Erhebungen zur elterlichen Rolle bei der politischen Sozialisation zeigten in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren, dass die parteipolitische Übereinstimmung zwischen Eltern und Kindern hoch war. Damals hat diese parteipolitische Einigkeit der Generationen manche überrascht – schließlich standen sich ein Teil der Jungen und die Alten zur Zeit der 1968er-Studentenbewegung politisch eher feindlich gegenüber. Große Wahlkonflikte innerhalb einer Familie schienen trotzdem die Ausnahme. Neuere Studien bestätigen diese frühen Erkenntnisse: Befragungen im Rahmen der Schweizer Wahlstudie zeigten 2015 und 2019 beispielsweise, dass Eltern einen größeren Einfluss auf ihre Erstwählerkinder zu haben scheinen als etwa deren Freundeskreis, die Lieblingsapp oder die Schule. Laut den dort erhobenen Zahlen war die Wahlentscheidung junger Menschen treffender durch die Parteivorlieben der Eltern vorherzusagen als durch andere getestete Faktoren wie Alter, Bildungsgrad, Geschlecht oder Einkommen. Und selbst wenn die Kinder anders als ihre Eltern wählten, blieben sie tendenziell im gleichen politischen Spektrum.

Ich vermute, diese familiäre Wahlneigung ist heute eher noch stärker, weil Jugendliche ein immer intimeres und gleichberechtigteres Verhältnis zu ihren Eltern haben. Was man auch an den Fridays-for-Future-Demos sieht, zu denen viele Erwachsene ihre Kinder und Enkel nicht nur aus Gründen der Aufsichtspflicht begleiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Jugendliche derzeit eher die Wahlentscheidung ihrer Eltern beeinflussen.

Ein Umzug, neue Freunde, eine Auslandsreise: Die zweite Wahl lassen viele junge Menschen ausfallen 

Im September steht meine zweite Bundestagswahl an. Ich habe die Enttäuschung der ersten Wahl überwunden, aber der Hype ist vorbei. Wann war ein zweiter Teil je besser als der erste? Was für so gut wie alle Filmsequels gilt, hat auch die Wahlforschung entdeckt. Sie nennt das den Erstwählersprung: Viele junge Wählerinnen und Wähler machen von der ersten Wahlgelegenheit häufiger Gebrauch als von der zweiten. Und zwar vor allem aus zwei Gründen, wie Hans-Peter Kuhn, Professor für empirische Bildungsforschung, mal in einem Interview erklärt hat: Wählen fühlt sich verdammt erwachsen an. Und Erstwähler wohnen eben in der Regel noch zu Hause, wo die Eltern sie motivieren, ihre Stimme abzugeben. 

Es ist seltsam: Jugendstudien zeigen, dass das politische Interesse von jungen Menschen mit jedem Lebensjahr eher zunimmt. Und trotzdem gehen viele junge Menschen beim zweiten Mal nicht mehr zur Wahl. Vielleicht hat das damit zu tun, dass sich nach der Erstwahl viele neu orientieren. Ein Umzug, neue Freunde oder längere Auslandsreisen können die Identität in ordentliche Krisen führen und zu einem neuen Selbstbild führen, das man dann wiederum von einer anderen Partei besser vertreten fühlt. In dieser Phase lässt meist auch der Einfluss der Eltern nach. Die – und das kommt hinzu – heute selbst oft weniger gefestigt sind in ihren Parteipräferenzen: Demoskopen beobachten, dass der Anteil der Wechselwähler in der Bevölkerung steigt. Professor Kuhn spricht sogar von einer allgemeinen Wechselwählerstimmung, weil es immer weniger Wähler gibt, die seit Jahrzehnten treu für dieselbe Partei stimmen. Wenn Eltern ihre politische Überzeugung ändern, geben sie sie auch weniger stark weiter.

Bei der letzten Europawahl habe ich eine ganz andere Partei gewählt als meine Eltern. Aber damals habe ich mich damit gut gefühlt, wie ein kleiner Wahlrebell. Mit leichtem Herzklopfen stand ich in der Wahlkabine und war froh, dass dank der Trennwand niemand meinen Verrat erkennen konnte – auch nicht meine Eltern.

Titelbild: Hannes Jung / laif

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