Wer wählt hier eigentlich wen?
Bei einer Bundestagswahl entscheidet sich, wer für die kommenden vier Jahre die Geschicke der Bundesregierung und des Parlaments lenkt. Sprich: welche Partei oder Parteien die Regierung bilden, wer den Kanzler oder die Kanzlerin stellt und wer in der kommenden Legislaturperiode wie viele Sitze im Parlament, dem Bundestag, erhält. So auch am 26. September, wenn der nächste – mittlerweile 20. – Deutsche Bundestag gewählt wird. Die Regeln dafür sind einfach: Wählen darf grundsätzlich, wer über 18 Jahre alt ist, seit mindestens drei Monaten in Deutschland wohnt und deutscher Staatsbürger ist – und damit das sogenannte aktive Wahlrecht besitzt.
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Mit Behinderung und Vollbetreuung hatte Martin lange kein Wahlrecht. Unsere Filmemacher haben Martin vor seiner ersten Wahl getroffen
Dasselbe gilt für das passive Wahlrecht, also für diejenigen, die in den Bundestag gewählt werden wollen. Bei der Bundestagswahl 2017 waren knapp 62 Millionen Deutsche wahlberechtigt. Unter bestimmten Voraussetzungen können volljährige Deutsche ihr Wahlrecht auch verlieren. Bis vor kurzem zählten dazu beispielsweise noch Menschen, die sich wegen einer Behinderung in Vollbetreuung befinden. Weiter gilt das für Menschen, die wegen bestimmter politischer Straftaten verurteilt worden sind. 2017 wurden knapp 85.000 Personen von der Bundestagswahl ausgeschlossen.
Moment, warum hab ich dann zwei Stimmen bei der Bundestagswahl?
In Deutschland gilt die sogenannte personalisierte Verhältniswahl. Das bedeutet: Bei der Bundestagswahl darf jeder Wähler und jede Wählerin zwei Kreuze auf den Stimmzettel setzen: Mit der Erststimme wählen sie je einen Politiker oder eine Politikerin aus dem eigenen Wahlkreis direkt in den Bundestag. Abgeordnete beziehungsweise Abgeordneter wird, wer in dem entsprechenden Wahlkreis die meisten Stimmen holt. Und tatsächlich auch nur die Person mit den meisten Stimmen – alle anderen bekommen keinen Sitz. Das wird auch „The winner takes it all“-Prinzip genannt. Die Hälfte der Sitze im Bundestag wird über diese sogenannten Direktmandate vergeben. Meistens gehören diese Abgeordneten auch einer Partei an. Das ist aber kein Muss.
Mit dem zweiten Kreuz wählt man eine der 47 Parteien, die für die Wahl zugelassen wurden und auch an ihr teilnehmen. Die Zweitstimme ist für die Machtverhältnisse im Parlament maßgeblich. Je mehr Zweitstimmen eine Partei holt, desto mehr Sitze im Bundestag erhält sie. Bei 20 Prozent der Zweitstimmen stehen ihr also auch 20 Prozent der Sitze zu, bei 13,3 Prozent 13,3 Prozent der Sitze und so weiter. Einzige Ausnahme: Wenn eine Partei bei den Zweitstimmen unter fünf Prozent bleibt und nicht mindestens drei Wahlkreise gewinnt, bekommt sie gar keinen Sitz – beziehungsweise nur die Sitze, die sie gegebenenfalls über Direktmandate gewinnt. Diese Sperrklausel soll verhindern, dass zu viele kleine Parteien im Parlament sind und die Regierungsbildung erschweren.
Wie funktioniert die Sitzverteilung?
Eigentlich ist die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf 598 festgelegt. Aus den 299 Wahlkreisen kommen die (299) direkt gewählten Abgeordneten, also die, die mit der Erststimme gewählt werden. Die übrigen 299 Sitze werden gemäß der Zweitstimme über die jeweiligen Landeslisten der Parteien aufgefüllt, auf denen vor der Wahl die entsprechenden Kandidaten festgelegt werden müssen. Je besser das Wahlergebnis einer Partei (also je mehr Zweitstimmen sie bekommen hat), desto mehr Kandidaten der Liste „rutschen“ in den Bundestag. Wer sich für die Details interessiert: Jedem Bundesland wird bereits vor der Wahl die Anzahl der Sitze im Parlament zugeteilt, die dessen Bevölkerungsanteil proportional entspricht. Gemäß dem Wahlergebnis in diesem Bundesland erhalten die Parteien ihren Anteil dieses Kontingents zugeordnet. So weit die Theorie.
In der Praxis wird der Bundestag immer größer. Das liegt an den sogenannten Überhangmandaten. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr (anteilig an den Zweitstimmen) Sitze im Bundestag zustehen. Um diese Verzerrung auszugleichen, erhalten die anderen Parteien sogenannte Ausgleichsmandate. Die Folge: Die Zahl der Bundestagsabgeordneten übersteigt nach der Wahl regelmäßig die vorgesehenen 598. Aktuell sind es 709. Im nächsten Bundestag könnten es sogar mehr als 800 sein, wie Modellrechnungen zeigen. Grund für diese Entwicklung ist, dass manche Parteien zuletzt weniger Zweitstimmen holten, gleichzeitig aber immer noch viele Wahlkreise über Erststimmen gewinnen.
„Bei der Bundestagswahl 2017 ging fast jeder und jede vierte Wahlberechtigte nicht zur Wahl“
Welche Folgen hat ein vergrößerter Bundestag?
Erstens, ganz banal: Der Platz im Bundestag und den dazugehörigen Gebäuden für Büros ist begrenzt. Das heißt, dass vielleicht neue Räume oder Sitzgelegenheiten hermüssen. Zweitens wird der Bundestag durch mehr Abgeordnete und deren Teams teurer. Drittens könnten die Verhandlungen und Koordinierungsprozesse im Bundestag durch immer mehr Abgeordnete erschwert werden. Die aktuelle Bundesregierung konnte sich auf eine minimale Reform des Wahlrechts verständigen. So werden bei der anstehenden Bundestagswahl bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen, wenn die Regelgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten überschritten wird. Eine größere Reform soll erst 2025 folgen. Geplant ist unter anderem eine Reduzierung der Wahlkreise.
Und wenn ich einfach nicht wähle?
In Deutschland gibt es im Gegensatz zu manchen anderen Ländern keine Wahlpflicht. Damit dennoch möglichst viele Wahlberechtigte an der Wahl teilnehmen, werden Wahlbenachrichtigungen automatisch mehrere Wochen vor der Wahl verschickt, die Wahlen in der Regel auf Sonntage gelegt und alternativ zum Urnengang eine unkomplizierte Briefwahl angeboten. Informationsangebote wie der Wahl-O-Mat sollen den Bürgern und Bürgerinnen Orientierung für ihre Wahlentscheidung geben. Natürlich gibt es trotz alledem Menschen, die ihre Interessen durch keine Parteien vertreten sehen – oder aus anderen Gründen nicht wählen. Bei der Bundestagswahl 2017 war das bei fast jedem und jeder vierten Wahlberechtigten der Fall.
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Verglichen mit anderen Demokratien ist der Anteil der Nichtwähler in Deutschland zwar eher niedrig. Dennoch führen Wahlen mit niedriger Beteiligung zu einer repräsentativen Schieflage: Aus der Wahlforschung ist bekannt, dass eher Menschen aus sozial benachteiligten Familien und Jüngere – mit Ausnahme der Erstwähler – nicht wählen. Im Umkehrschluss heißt das, dass bei einer geringeren Wahlbeteiligung die Interessen der Älteren und der sozial Begünstigten stärker im Parlament vertreten sind. Wenn bei der Bundestagswahl 2017 alle Nichtwählerinnen und Nichtwähler dieselbe Partei gewählt hätten, hätte diese Partei damit fast den Wahlsieg errungen, so viele Stimmen machen die Nichtwähler aus. Wer nicht wählt, stärkt automatisch die Parteien, die es in den Bundestag schaffen. Zuletzt ist die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen aber deutlich gestiegen.
Und noch etwas spricht dafür, dass dieser Trend anhält: An immer mehr Schulen in Deutschland finden parallel zu Bundestags- oder Landtagswahlen Spielwahlen statt, bei denen sich die Jugendlichen mit den verschiedenen Parteien auseinandersetzen. Wie erste Studien zeigen, erhöhen sie nicht nur die Wahlbeteiligung bei den Erstwählern von morgen – sondern sogar bei deren Eltern.
Titelbild: Hannes Jung/laif