Rund 30 Minuten fährt man mit dem Taxi vom Zentrum Prištinas, der jüngsten Hauptstadt Europas, zum Flughafen, vorbei an Shoppingmalls, Plattenbauten, unzähligen Autowerkstätten und unverputzten Ziegelsteinhäusern. Viele Kosovaren träumen davon, diese Strecke zu nehmen, ihren Koffer am Schalter abzugeben und in ein Flugzeug nach Wien, Kopenhagen, Berlin oder Prag zu steigen. Doch was für viele junge Menschen in Europa Normalität ist, bleibt ihnen verwehrt. Kosovo ist das einzige Land Europas, dessen BürgerInnen für die Länder des Schengen-Raums ein Visum brauchen. Wer seine Familie im Ausland besuchen, an einem Festival teilnehmen oder ein Auslandssemester einplanen will, der hat einen langen bürokratischen Kampf auszufechten, muss Dokumente zusammentragen, Kontoauszüge beantragen, sich in lange Schlangen vor den Botschaften einreihen. Das Freiheitsgefühl bleibt auf der Strecke.
Eine Ausreise aus Kosovo gen Schengen-Raum ist ein Privileg, auf das man monatelang warten muss. In den Nachbarstaaten des kleinen Balkanlandes sieht es anders aus. Für Albanien und Bosnien wurde die Visapflicht 2010 aufgehoben, für Serbien, Montenegro und Mazedonien bereits 2009. Der Kosovo bleibt das Schlusslicht. Das liegt auch daran, dass Kosovos Unabhängigkeit weltweit und auch innerhalb der Europäischen Union nach wie vor umstritten ist. Dabei hätte das Land einst so etwas wie das Prestigeprojekt der Europäischen Union und der USA auf dem Balkan werden können. Nachdem die NATO mittels Bombardements den Kosovokrieg von 1998/1999 beendet hatte, die Provinz Kosovo dann per UN-Resolution eine „substanzielle Autonomie“ erhielt und die Vereinten Nationen die Interimsverwaltung UNMIK errichteten, erklärte Kosovo sich am 17. Februar 2008 zum „unabhängigen, souveränen und demokratischen Staat“. Und obwohl seitdem Milliarden an Hilfsgeldern hierher geflossen sind, bleibt Kosovo eines der ärmsten Länder in Europa. Lange hat sich die albanische Bevölkerungsmehrheit diesen eigenen Staat herbeigesehnt, zum Ärger Serbiens, das seine ehemalige Provinz noch immer als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet. Doch heute, zehn Jahre nach der Unabhängigkeit, wollen viele der Kinder und Enkelkinder jener, die für diesen Staat gekämpft haben, ihn auch einfach mal verlassen können.
Es sind Menschen wie Flamur, 25, und Vjosa, 19, beide Studenten in Priština. Er studiert Informatik und programmiert nebenbei Webseiten für ausländische Firmen, sie studiert Deutsch und will Übersetzerin werden. Als die beiden geboren wurden, war der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien bereits zerfallen. An den Krieg, der Hunderttausende Familien zur Flucht zwang, können sie sich nur vage bis gar nicht erinnern. Ihre Kindheit war geprägt vom Wiederaufbau, angefangen bei den zerstörten Häusern ihrer Familien bis hin zum Staat selbst, der bis heute um seinen Platz auf der internationalen Bühne ringt und von fünf EU-Mitgliedsländern – Griechenland, Slowakei, Zypern, Spanien, Rumänien – noch immer nicht anerkannt wird. Heute, da sich die Unabhängigkeit zum zehnten Mal jährt und Prištinas Zentrum in den Staatsfarben Blau und Gold erstrahlt, haben sie es satt, in der Heimat isoliert zu sein. Sie wollen europäische Städte sehen, Familie und Freunde im Ausland besuchen. Sie wollen nicht unbedingt auswandern, aber sie möchten zumindest die Möglichkeit haben, sich auch in einem ganz anderen Land eine Zukunft aufzubauen.
Um ein Visum zu bekommen, muss Flamur 6.000 Euro auf seinem Konto haben
In einem Café der Stadt erzählen die beiden von ihren Wünschen und Träumen. Flamur möchte sein Informatik-Masterstudium in Wien absolvieren, doch er muss für das Visum nachweisen, dass er mindestens 6.000 Euro auf dem Konto hat. „So viel verdient im Kosovo nicht einmal eine Familie im Jahr“, klagt er. Vjosa, die ihr Studium gerade erst begonnen hat, verfolgt andere Ziele. Sie möchte ein paar Monate in München arbeiten, wo derzeit ein Teil ihrer Familie lebt: „In einem Restaurant, in einer Bar oder einem Hotel. Ganz egal, Hauptsache, ich kann eine andere Stadt sehen“, sagt sie. Vjosa und Flamur sind in ihrem Leben noch nie weiter als in die Nachbarländer gereist – nach Albanien, Mazedonien und Montenegro.
Das Durchschnittseinkommen im Kosovo: 300 Euro
Geschichten wie die von Flamur und Vjosa sind oft zu hören in den Bars und Clubs von Priština, der Stadt, die auch als Teenager unter Europas Hauptstädten bezeichnet wird.Denn hier leben so viele Menschen unter 30 wie an wenigen anderen Orten Europas. Die hippen Bars, in denen man Veggie-Burger, Avocado-Sandwiches und frisch gepresste Orangensäfte bestellen kann, unterscheiden sich kaum von jenen in Berlin oder Hamburg. Als sogenannter „International“ kann man hier für wenig Geld ein angenehmes Leben führen. Für die Kosovaren hingegen, deren Durchschnittseinkommen bei 300 Euro liegt, sind die im westeuropäischen Vergleich niedrigen Preise immer noch hoch: 1 Euro für Zigaretten, 3 Euro für ein Mittagessen, 350 Euro für eine große Wohnung im Zentrum. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, Sozialleistungen quasi nicht vorhanden. Was Kosovo am Leben hält, ist nicht nur die heimische Wirtschaft, sondern auch die Diaspora – ausgewanderte Kosovaren, die ihren Familienmitgliedern jeden Monat einen kleinen Euro-Betrag überweisen. Die jungen Menschen, die zurückbleiben, versuchen für die „Internationals“ zu arbeiten – in Nichtregierungsorganisationen, Entwicklungsprojekten, Botschaften und Thinktanks. Abgesandte aus vielen EU-Mitgliedsländern kommen hierher, um europäische Werte zu vermitteln. Aber die Kosovaren, die dieses Europa gerne mal selbst erleben würden, dürfen nicht raus.
Warum wird Kosovo bis heute als einzigem Land der Region die Visafreiheit für den Schengen-Raum verwehrt? Ein Land, das laut Balkan-Barometer als das proeuropäischste in Südosteuropa gilt. In Kosovo, wo die EU mit Flaggen und Infozentren omnipräsent ist, müssen die Bürger und Bürgerinnen das Gefühl haben, ihr näher zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind. Die Frage ist nur: Wie lange bleiben sie der EU auch gewogen? Mit jedem Jahr, in dem die Visafreiheit auf sich warten lässt, verliert die EU an Popularität, während die Türkei als neuer Akteur schleichend ihren Einfluss ausdehnt, etwa durch den Kauf des Energieverteilungsnetzes und den Bau von Moscheen. An der Abwanderung kann das wenig ändern. Immer mehr Menschen verlassen das Land auf illegalem Wege.
2015 kam es zu einem regelrechten Massenexodus. 50.000 bis 60.000 Menschen sind in wenigen Monaten ausgewandert – von Serbien über Ungarn nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz. Nicht wenige von ihnen haben ihre Häuser verkauft, nur um Monate später zurück in den Kosovo abgeschoben zu werden, weil ihre Asylanträge abgelehnt wurden.
Wer trägt Schuld daran, dass Menschen wie Vjosa und Flamur nicht ausreisen dürfen? Immerhin führt der Kosovo schon seit sechs Jahren einen Visa-Dialog mit der EU. Doch zwei Bedingungen der EU blieben lange unerfüllt: die Forderung nach der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie die nach einem Grenzabkommen mit Montenegro. Zumindest letztere Voraussetzung ist inzwischen erfüllt. Nach zweieinhalb Jahren kam gestern Abend im Parlament die nötige Mehrheit zur Ratifizierung zustande – trotz heftigem Protest der nationalistischen Oppositionspartei Vetevendosje: Abgeordnete versuchten, das Abkommen mit Tränengas zu stoppen; der Plenarsaal musste mehrfach geräumt werden. Nach fünf Anläufen aber stand das Ergebnis: 80 von 120 Abgeordneten stimmten für das Abkommen und besiegelten damit das Ende von „Jahrzehnten der Isolierung“, wie der kosovarische Präsident auf Twitter schrieb.
Anfang Februar hat sich die EU auf den Kosovo zubewegt, indem dem Land, wie den anderen fünf Westbalkanländern auch, eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde. Im Gegensatz zu Serbien und Montenegro, die bereits 2025 beitreten könnten, wurde für den Kosovo allerdings kein Zieltermin fixiert. Dass der Beitritt so schnell klappt, ist auf jeden Fall unwahrscheinlich, denn die Anforderungen auf dem Weg dorthin sind hoch. Aber es ist ein Signal, dass die EU den Kosovo nicht vergessen hat.
Einer der größten Bremsfaktoren bleibt am Ende der Europäische Rat, also die Versammlung der Regierungschefs aller Mitgliedsländer. Viele von ihnen fürchten sich vor einer Migrationswelle aus dem Kosovo. Die ehemalige Innenministerin Österreichs, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), reiste 2015 sogar persönlich nach Priština, um bei einer Pressekonferenz darüber zu informieren, dass es für Kosovaren kein Asyl in Österreich geben würde. Junge Menschen wie Flamur und Vjosa wollen jedoch gar nicht flüchten, sie wollen nur endlich ganz legal reisen können – und in den Genuss der Freiheit kommen, die für ihre Altersgenossen in der EU ganz normal ist.