Als sich in akademischen Kreisen herumsprach, dass es im Norden Tansanias noch Leute geben soll, die ein Leben wie in der Steinzeit führen, die Tiere jagen und Pflanzen sammeln und wenig Kontakte zu anderen haben, brach eine Karawane von begeisterten Wissenschaftlern und Journalisten zu den Hadza auf. Ein Volk, das noch nicht mit Medizin und industriell erzeugter Nahrung in Kontakt gekommen ist, gibt es einfach nicht mehr so oft auf dieser Welt. Immer wieder tauchen nun Fremde vor den Hütten des angeblichen Urvolkes auf und stellen ihre Forschungsprojekte vor. Da sind Psychologen, die anhand der Hadza das Geheimnis der archaischen Liebe ergründen wollen. Da sind Anthropologen, die wissen wollen, wie sich Menschen in früheren Zeiten vor nächtlichen Gefahren geschützt haben könnten. Und da ist ein seltsamer Amerikaner namens Jeff Leach, der ihnen umgerechnet 14 Euro für eine Portion Kot zahlte.
Mikrobiomforscher wie Leach interessieren sich brennend für die Hadza. Bei ihnen existieren keine Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit. Womöglich hängt das auch mit dem speziellen Bakterienmix in ihren Därmen zusammen, den es in Europa oder den USA so nicht gibt. „Ihre Kinder werden im Dreck geboren und lange gestillt, die Männer besudeln sich mit Blut, Kot und dem Mageninhalt von Tieren. Sie wurden noch nicht mit den Medikamenten der modernen Welt überzogen. Diese Menschen sind eine mikrobiologische Arche Noah“, schwärmt Leach. Wie genau ein gesundes Mikrobiom beim Menschen aussieht, ist bisher weitgehend unklar.
Die Erkenntnis, dass im menschlichen Körper Mikroorganismen leben, ist an sich nicht neu. Schon im 17. Jahrhundert entdeckte der niederländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek in einem Abstrich seines Zahnbelags mit einem selbst gebauten Mikroskop winzige Lebewesen, die er animalcules nannte. „Ich sah dann immer, mit großem Erstaunen, dass in dem besagten Material viele sehr kleine lebende animalcules waren, die sich sehr hübsch bewegten. Die größte Sorte zeigte eine starke und flinke Bewegung und schoss durch das Wasser (oder den Speichel) wie ein Hecht [...]“, schrieb er.
Vor Bakterien und anderen Mikroben (zum Beispiel winzigen Pilzen und Algen) gibt es kein Entkommen. Als sich der Vormensch vor sieben Millionen Jahren ausbreitete, war sein Körper bereits auf das Zusammenleben mit diesen winzigen Organismen eingestellt, die die Erde seit Milliarden Jahren besiedeln.
Früher war die Suche nach Bakterien allerdings noch ein mühsames Geschäft. Im Jahr 1876 kultivierte der spätere Nobelpreisträger Robert Koch den Milzbranderreger Bacillus anthracis erstmals in einer Petrischale. Koch, der auch den Erreger der Tuberkulose fand, verursachte mit seiner Arbeit eine regelrechte Bakterienfurcht (im Gegensatz zu seinem Rivalen Louis Pasteur, der immerhin schon wusste, dass es ohne Bakterien in der Milch keinen Käse gäbe). Darmbakterien wurden fälschlicherweise anfangs als Zeichen einer Krankheit interpretiert. Der schottische Arzt Sir William Arbuthnot Lane empfahl seinen Patienten deswegen auch die vorsorgliche Amputation von Teilen des Dickdarms. Denn er wusste noch nicht, dass Bakterien uns bei der Verdauung behilflich sind. Im Darm leben zwar auch potenziell schädliche Bakterien, doch eine dicke Schleimschicht und eine Schutzwand verhindern bei gesunden Menschen, dass sie sich in anderen Bereichen des Körpers ausbreiten.
Unsere körpereigenen Bakterien wurden bis vor einigen Jahren komplett unterschätzt. Das liegt auch daran, dass man mit Mikroskopen und Petrischalen nur einen winzigen Ausschnitt aus der Welt der Mikroben erkunden konnte. Sogenannte metagenomische Untersuchungsmethoden haben bahnbrechende Erkenntnisse zutage gefördert. Seit man Bakterien nicht mehr sehen muss, sondern einfach ihr Erbgut sammeln und analysieren kann, ist klar geworden, wie unfassbar groß unser Nichtwissen ist. Bislang haben wir schätzungsweise mehr als 99 Prozent aller Mikroorganismen in unserem Körper übersehen.
Es ist eine Art Universum im Kleinen, das sich da aufgetan hat. Jede Stelle unseres Körpers ist von unzähligen Mikroben besiedelt, die vermutlich alle irgendwelche Aufgaben erfüllen. Zusammen bilden sie das Mikrobiom. Auf der Haut sollen es Milliarden Bakterien sein, in einem Gramm Darminhalt schon eine Billion. Gezählt hat sie natürlich niemand. Aber je nach Quelle schätzen Autoren, dass unsere Mikroben zusammengenommen zwischen ein paar hundert Gramm und 1,5 Kilogramm Gewicht haben. Angeblich soll es zehnmal mehr Bakterien als Körperzellen in einem Menschen geben. Es ist aber nicht bloß die Anzahl an Mikroben, sondern auch die Vielfalt, die atemberaubend ist. „Die Handflächenbakterien zweier Menschen stimmen nur zu 13 Prozent überein, ja, bei einer Person liegen die Übereinstimmungen zwischen rechter und linker Hand mit 17 Prozent nur unwesentlich höher“, schreibt der Autor Bernhard Kegel. Allein im Mundraum sollen bis zu 25.000 verschiedene Arten von Bakterien zu finden sein.
Die Vorstellung, dass ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze so etwas wie ein Individuum sein kann, lässt sich mit diesem Wissen nicht mehr aufrechterhalten. Stattdessen setzt sich zunehmend die Bezeichnung Holobiont für eine Gemeinschaft aus dem Wirt und seinen Mitbewohnern durch. Wie genau diese unterschiedlichen Mikroorganismen zusammenarbeiten und welchen Einfluss sie auf unser Leben haben, ist bislang allerdings weitgehend unbekannt.
Experimente mit Mäusen, die per Kaiserschnitt geboren und in sterilen Umge- bungen aufgezogen wurden, legen nahe, dass das Mikrobiom das Verhalten der Tiere verändert. Mäuse ohne Bakterien im Körper sind weniger furchtsam und stürzen sich ins Risiko. Bei Tüpfelhyänen scheinen Bakterien eine so große Rolle zu spielen, dass man darüber spekulieren kann, ob diese ihre wahren Beherrscher sind. Mikroben im Aftersekret erzeugen Gerüche, die wiederum das komplette Sozialverhalten und die Kommunikation der Hyänen steuern (auch der Geruch von Menschen hängt übrigens von Bakterien ab). Mit jeder neuen Studie scheint die Bedeutung des Mikrobioms für unseren Körper zu wachsen. Die Bakterien im Darm kümmern sich zum Beispiel um viel mehr als nur die Verdauung. Sie sollen Einfluss auf so unterschiedliche Störungen wie Depression, Autismus oder Asthma haben. Kein Wunder, dass manche Forscher bereits behaupten, Mikroben seien ein Superorgan, vielleicht sogar so etwas wie unser zweites Gehirn.
Auf seiner Reise in Tansania hielt sich der Amerikaner Jeff Leach nicht lange mit kleinteiligen Fragestellungen auf. Weil er überzeugt war, dass die Hadza bessere Bakterien hatten als er selbst, entschloss er sich zu einem Selbstversuch. Er injizierte sich den Kot eines Spenders aus Tansania kurzerhand in den Darm. Obwohl er dafür von Kollegen als Spinner und Esoteriker kritisiert wurde, ist die Methode nicht abwegig. Immerhin setzten Ärzte Stuhltransplantationen bereits bei manchen Darmerkrankungen erfolgreich ein. Forscher aus Heidelberg fanden heraus, dass es, ähnlich wie bei Blutgruppen, drei Typen von Mikrobiomen gibt, was Transplantationen in Zukunft erleichtern soll. Dass wir uns dennoch noch nicht routinemäßig fremden Kot in den Hintern spritzen, hat neben dem Risiko, sich dadurch eine Krankheit einzufangen, auch einen weiteren Grund. Wir verstehen einfach immer noch nicht genau, wer unsere Mikroben sind.