Am Anfang war der Streit. Dessen Wurzeln liegen in den Tiefen des Gartower Forstes, wo die Bäume so dicht stehen, dass ihre grauen Stämme nach wenigen Metern zu einer dunklen Wand verschmelzen. Folgt man den sandigen Pfaden immer weiter ins Gehölz, hört man irgendwann ein Brummen und sieht auf einer Lichtung: das Zwischenlager Gorleben. Ein Zaun, ein Wachmann und dahinter die graugrünen Hallen voller Atommüll: 584 Fässer mit mittel- und schwachradioaktivem und 113 Castoren mit hochradioaktivem Material.
Eigentlich sollten sie alle mal im Endlager Gorleben ver- schwinden, das man zu diesem Zweck in einem benachbarten Salzstock errichten wollte. Bis die Politik das umstrittene Projekt 2013 kippte.
Wer heute vom Wendland spricht, meint meist den Landkreis Lüchow-Dannenberg, der zwischen Hamburg und Berlin südlich der Elbe in einer sanft geschwungenen Hügellandschaft liegt. 50.000 Menschen wohnen hier im nordöstlichsten Zipfel Niedersachsens. Bis 1989 war der Landkreis von Grenzen umzogen, Zonenrandgebiet nannte man das, es fühlte sich an wie das Ende der Welt.
Die Wenden, auf die der Name zurückgeht, waren Slawen im deutschsprachigen Raum, eine Minderheit in der Region, anders als die anderen. Damit identifizierten sich viele Menschen, die ab den 1970er-Jahren hierherzogen: Künstler, Aktivisten, Freiheitsuchende. Ihre Utopie nannten sie „Wendland“ – im Gedenken an den eigensinnigen, den wendischen Geist. Bis heute gibt es im Wendland keine Autobahn, kaum Industrie, kaum Handyempfang, nur ein paar verstreute Dörfchen, Wälder und Felder. Hier glauben die Menschen, dass die Strukturschwäche ihnen Glück gebracht hat: eine Chance auf die Entwicklung alternativer Strukturen.
Im Mai 1980 wurde auf einem zuvor abgebrannten Waldstück nahe der Tiefbohrstelle 1004, die der Vorbereitung des Endlagers dienen sollte, die „Republik Freies Wendland“ ausgerufen. Die rund 1.000 Aktivisten wollten ein Zeichen gegen die Atompolitik setzen und basisdemokratisches Gemeinschaftsleben erproben. 33 Tage hielt die Republik, dann wurde die zeitweise auf 2.500 Menschen angewachsene Gruppe von der Polizei mit Bulldozern und Schlagstöcken aufgelöst – und der Mythos Wendland war geboren. Wurde der Protest bis dahin von linken Aktivisten aus Hamburg und Berlin getragen, traf er nun auf breite Zustimmung. Auch die alteingesessenen, eher konservativen Wendländer schlossen sich an. Aus linksökologischem Widerstand wurde im Laufe der Zeit eine Bürgerbewegung.
Zwischen 1995 und 2011 fuhren regelmäßig Castortransporte mit Atommüll aus Deutschland und Frankreich ins Wendland. Die fünfte Jahreszeit nannte man das hier. Landwirte, Aktivisten, Studenten und Künstler kamen zusammen, um die Zufahrtsstraßen und Bahngleise zu blockieren. 50.000 Demonstranten (die Polizei geht von der Hälfte aus) sollen es zuletzt gewesen sein. Die großen ungelösten Fragen der Atomenergie standen im Fokus der Proteste: Wie zukunftsträchtig ist eine Industrie, deren gefährlicher Müll noch nirgends sicher untergebracht werden kann?
Jedes Jahr wurde aufgerüstet: Wo sich Aktivisten in den ersten Jahren nur auf Gleise gesetzt hatten, ketteten sie sich später an oder verankerten ihre Körper an einer 600 Kilo schweren Pyramidenkonstruktion aus Beton und Rohren, die nicht mehr von den Gleisen zu bewegen war. Die Polizeikräfte, die aus dem ganzen Bundesgebiet entsandt wurden, galten vielen Wendländern als Besatzer. Es war viel los beim Castorkarneval. Diese Erfahrungen haben die Wendländer bis heute geprägt.
Familie Tempel steht stellvertretend für die wendländische Protestgeschichte. Um sie zu besuchen, passiert man auf immer schmaler werdenden Wegen Felder und Wälder, fährt vorbei an pittoresken Fachwerkhäusern, Pferdekoppeln, blühenden Obstbäumen. Ein Bullerbü-Idyll, das nur durch die gelben, x-förmigen Holzkreuze gebrochen wird. Am Tag X, so die Botschaft, steht man hier zusammen. Eine Verschwörung, die zum Mitmachen einlädt: Bist du mit uns? Gegen den Castor und für eine andere Art zu leben?
Katja Tempel lebt in einem Häuschen im Dorf Meußließen. Im Wohnzimmer brennt ein Holzofen – es ist ein regnerischer Tag. Eine graue Katze umstreicht ihre Beine, während sie erzählt: Ihre Eltern, Helga und Konrad Tempel, sind wichtige Vordenker der deutschen Friedensbewegung. Sie brachten die Ostermärsche gegen die atomare Bewaffnung nach Deutschland, gründeten 1980 die „Kurve“, eine Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion in Wustrow, und gaben die erste deutsche Ausgabe von Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ mit heraus.
Katja Tempel kam ins Wendland, um in der „Kurve“ zu arbeiten, war von Beginn an bei den Protesten gegen die Castortransporte dabei, hat das Aktionsnetzwerk „X-tausendmal quer“ gegründet. Ihre Tochter, Clara Tempel, war schon als Kind bei Demonstrationen dabei und gründete mit 17 Jahren das „Jugendnetzwerk für politische Aktionen“, das mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Der aktive Pazifismus gehörte bei den Tempels einfach dazu.
Als die Castortransporte eingestellt wurden, war das für Katja Tempel zunächst mehr Schock als Triumph. Sie stand in ihrer Küche und weinte. „Es war ein Endpunkt“, sagt sie. Doch dann erkannte sie, dass es viel zu tun gab. „Wir begannen, die alten Seilschaften nicht nur gegen Castoren, sondern auch für Menschen zu nutzen.“ 2015 unterstützte Tempel als Hebamme Flüchtlinge in den drei Notunterkünften des Landkreises, setzte sich für deren Rechte ein. Ein kurzer Anruf und viele seien wieder zur Stelle gewesen, sagt Tempel. Es war keine neue Massenbewegung, aber ein erster Schritt zur Transformation der Widerstandskräfte.
Und die wirken heute weit über den Landkreis hinaus: Aktionsstrategien, die während der Zeit der Castortransporte erfunden und erprobt wurden, sind heute das Einmaleins des Widerstands. Wenn „Blockupy“ die Frankfurter Innenstadt lahmlegt, um gegen die Politik der Europäischen Zentralbank zu protestieren, wenn „Ende Gelände“ den Kohletagebau im Rheinland und in der Lausitz besetzt, um für den Klimaschutz Stimmung zu machen, dann passiert das auf Grundlage des wendländischen Widerstandswissens. „Es ist schön zu sehen, wie unser Wissen jetzt an anderer Stelle weiterwirkt“, sagt Katja Tempel. Für sie ist der Widerstand Teil ihrer Identität geworden: „Wendländerin zu sein heißt politisch aktiv zu sein: nicht im Kreistag, sondern auf der Straße!“
Ein weiteres Zentrum dieser Entwicklung ist die Kommune Meuchefitz. Am Ende einer Straße voller Schlaglöcher taucht zwischen den Rapsfeldern wie aus dem Nichts ein imposantes Fachwerkhaus auf. Der Landgasthof wurde nach der Räumung der „Republik Freies Wendland“ zu einem wichtigen Treffpunkt der politisch Aktiven. Seither trifft sich die Szene dort in der Donnerstagskneipe. Rund zehn Menschen leben in der Kommune und betreiben ein Tagungshaus und einen Gasthof.
Nach dem Ende der Castortransporte wollen sie nun neue politische Diskurse im Wendland anstoßen. Neu ist, dass die Themen sich nicht nur gegen einen übermächtigen Feind von außen wenden, sondern die Dörfer und ihre Bewohner selbst betreffen: Rassismus, Naturschutz, patriarchale Strukturen, Kapitalismus, Konsum. Jetzt wird der Streit persönlich. Künstler waren von Anfang an eine wichtige Kraft für die Proteste. Malerinnen wie Uta Helene Götz und Irmhild Schwarz prägten die äußere Ästhetik des Widerstandes, machten aus Flugblättern, auf denen alles draufstehen musste, Pla- kate, die bis heute wirken und ausgestellt werden. Aus politischen Kunstaktionen und Werkausstellungen entwickelte sich 1990 die KLP, die „Kulturelle Landpartie“. „Wir wollten den Leuten da draußen zeigen: Guckt uns an, wir sind die Chaoten, von denen in der Presse zu lesen ist“, sagt Michael Seelig.
Wie ein Chaot sieht der 76-Jährige nicht aus: Graues Haar, grauer Bart, Hemd, Pullover, ruhige Gesten – er trägt den Stil, den man heute mit dem Wendland verbin- det. 1974 zog der Kunst- und Werklehrer aus Hamburg ins Wendland, die Landpartie sei sein Kind, sagt er.
Heute ist die KLP auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region: Schätzungsweise 60.000 Menschen kommen jedes Jahr zwischen Himmelfahrt und Pfingsten für zwölf Tage ins Wendland. In 88 Orten präsentieren knapp 1.000 Menschen ihre Kunst, ihr Handwerk, teilen ihr Interesse und öffnen ihre Türen, um Einblicke in ihr Leben zu ermöglichen. Es gibt mittlerweile Jodelkurse und Mondscheinsensen – darüber, wie politisch das Programm sein muss und wie kommerziell es sein darf, wird offen gestritten. Aber darum geht es im Wendland ja auch: ums Streiten. „Das Endlager hat ja Arbeitsplätze versprochen. Es war an uns, zu zeigen: Eine andere Entwicklung ist möglich – in der Energie, in der Landwirtschaft, im kulturellen Leben.“
Diese Idee trägt Seelig bis heute voran. Manche sagen, er werde noch auf dem Sterbebett ein Projekt anstoßen. Seelig sagt, das sei der Fluch der Tat. Sein neuester Streich ist die „Grüne Werkstatt“ in Lüchow. Der Verein hat im alten Postamt des Städtchens den ersten Coworking-Space im Landkreis eingerichtet und will über die Vernetzung von Hochschulen mit der regio- nalen Wirtschaft neue, frische Köpfe ins Wendland locken.
„Der Blick zurück, das Beschwören des früheren Widerstands, das hängt mir zum Halse raus“, sagt Seelig. Er will die einzigartigen sozialen Strukturen, die Derivate des Streits um die Atompolitik, nutzen und weiterentwickeln. „Das sind die wirklichen Früchte des Widerstands“, sagt er. Seit 2011 wird hier mehr erneuerbare Energie produziert als verbraucht – das Wendland ist seither unabhängig von Kohle- und Atomstrom. Außerdem ist es landesweit Spitzenreiter im ökologischen Anbau: In Niedersachsen werden weniger als vier Prozent der Fläche ökologisch bewirtschaftet – in Lüchow-Dannenberg sind es fast 14 Prozent.
Viele Landwirte, die in der bäuerlichen Notgemeinschaft organisiert sind und die Castorblockaden immer tatkräftig unterstützt haben, sind mittlerweile in der Agrarwende-Bewegung aktiv. Zu der jährlichen Demonstration „Wir haben es satt!“ fahren sie mit dem Trecker über 200 Kilometer nach Berlin.
Die neueste Vision im Wendland: ein Modelldorf gegen Abwanderungen, das Menschen aller Generationen zusammenbringen will, egal ob alteingesessen oder in die Region geflüchtet. Auf dem 2,3 Hektar großen Feld am Rand von Hitzacker soll bis Mitte Juni das erste Haus stehen. Später soll der Ort wachsen und rund 300 Menschen beheimaten, die gemeinsam und basisdemokratisch herausfinden wollen, was es braucht, um auf dem Land gut zu leben und zu arbeiten. Obwohl vielerorts das Mondscheinsensen die Gleisbeset- zungen abgelöst hat und der Kuchenverkauf die Systemfrage, ist das Wendland bis heute ein Ort, an dem es sich trefflich streiten lässt – und leben.