Corona wirbelt den Alltag herum und zerteilt die Zeit in ein „Davor“ und „Danach“: Vor Corona gingen die Menschen ins Büro, ins Fußballstadion und zum Friseur; jetzt bleiben sie zu Hause, gucken Netflix und lernen Haareschneiden mit einem YouTube-Tutorial. Vor Corona blickte Ceil, 22 Jahre, morgens von ihrem Lager aus auf die sechsspurige Danziger Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Sie sah die volle Tram, die über die Kreuzung ächzte, beschäftigte Passanten auf dem Weg zur Arbeit.
Jetzt sind die Straßen leer gefegt, die meisten Läden geschlossen. Das Ordnungsamt hat mit einem rot-weißen Band den Park – ihr temporäres Zuhause – abgesperrt. Ceil, so nennt sie sich auf der Straße, trägt bunte Leggings und einen bemalten Parka. Ihre Dreads reichen bis über die Hüfte. Mit ihren lila Stiefeln tritt sie auf einen Mauervorsprung und klettert empor. Ein Trampelpfad führt zu ihrem Lager, in dem sie seit einem Jahr mit ihrem Freund lebt. Es liegt auf einem Hügel, mit vertrockneten Weihnachtsbäumen blickdicht gemacht.
„Es fehlt uns nicht an Essen, sondern an sozialen Kontakten“
Normalerweise ging Ceil morgens ins Internetcafé, um sich zu wärmen und Filme zu schauen. Eine Stunde ein Euro, die Kippe vierzig Cent. Das Geld dafür schnorrte ihr Freund zusammen. An diesem Morgen wickelt sie den Schlafsack um ihre Hüften, ihre Schultern hat sie nach vorne gezogen, sie friert. Schnee wirbelt um ihr Zelt. Daneben liegen gefütterte Schuhe, eine Sammlung von Plastikflaschen und ein Bücherstapel, ganz oben: „Das Polizei- und Ordnungsrecht“, das sie auf der Straße gefunden hat, und ein paar Fotobände. Selbst gemalte Bilder lehnen an einem kopfhohen Metallzaun, der ihr zumindest das Gefühl von Schutz gibt. Sie ist eine, die sich eigentlich in ihrem Leben auf der Straße gut eingerichtet hat. In der Erde hat sie zehn Konservendosen vergraben. Suppe, Mischgemüse, Sardinen in Sonnenblumenöl: ein kleiner Corona-Hamsterkauf. Die Orte, an denen es sonst warmes Essen gibt, wie beispielweise bei der Tafel, werden immer weniger. Die Freiwilligen, oft selbst Risikogruppe, bleiben zu Hause.
Seit Ceil das erste Mal von Covid-19 hörte, kam zu den üblichen Sorgen noch eine größere hinzu: „Es fehlt uns nicht an Essen, sondern sozialen Kontakten“, sagt sie im Schneidersitz vor ihrem Zelt und dreht sich eine Zigarette. An Berliner Zäunen hängen in diesen Tagen Tüten mit Lebensmitteln. Eine gut gemeinte Geste. Was sie ihr nicht geben können: Nähe. Auf der Straße bedeutet ein kurzer Blickkontakt zu Passanten derzeit, überhaupt Kontakt zu haben. Vor ein paar Tagen habe sie ein Mann angeschrien, als sie ihn mit ihrem Klapproller überholte, erzählt sie. Den Mittelfinger habe er ihr gezeigt. Sie hatte einen Meter Abstand gehalten.
Die Kontaktbeschränkungen gelten an diesem Tag in Berlin seit einer Woche. Eine Vorsichtsmaßnahme, mit der Bund und Länder die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen wollen. Aber wo sollen Wohnungslose hingehen, wenn sie Angst haben müssen, sich in Sammelunterkünften anzustecken? Wie sollen Obdachlose leben, seitdem das öffentliche Leben stillsteht und viele soziale Einrichtungen geschlossen sind? Die Corona-Krise wirft existenzielle Fragen auf für die, die durch das Netz des Wohlfahrtsstaats gefallen sind und sich irgendwie eingerichtet haben in einem improvisierten System aus Betteln, Mitleid und externer Hilfe.
Seit viereinhalb Jahren lebt Ceil auf der Straße, auf der es im Sommer schön und im Winter immerhin besser ist als dort, wo sie vorher war: in ihrer Pflegefamilie. Mit 18 Jahren ist sie auf dem Berliner Alexanderplatz gelandet. Ein Punk gab ihr einen Crashkurs. Sie lernte, im Schlafsack die Schuhe anzulassen, die Kapuze nachts bis über die Augen zu ziehen und dass es 15 Minuten dauert, bis der Körper sich von selbst erwärmt – aber auch, dass irgendwann ein Punkt kommt, an dem man genug hat vom Leben auf der Straße.
Für Ceil kam dieser Punkt vor zwei Wochen, als der Arzt ihr dringend eine Pause empfahl. Vom chronischen Stress und den Wintern auf offener Straße habe sie einen zu hohen Blutdruck. Der liegt normalerweise bei 120, ihrer bei 170. Ab 190 werde es lebensbedrohlich. Doch gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich um eine Wohnung bemühen will, einen Ort, an dem sie sich eine Mal-Ecke einrichten und so lange warm duschen könnte, wie sie will, häufen sich die Corona-Schlagzeilen.
Wie jeden Tag geht Ceil auch heute zur Anlaufstelle von Straßenkinder e.V. 80 Jugendliche gehen hier ein und aus. Sie werden nicht Obdachlose genannt, sondern Klient*innen. Die Einrichtung ist so etwas wie Ceils Lebensmittelpunkt, sagt sie und lehnt sich gegen die Wand. Der Ort, an dem sich Ceil normalerweise in Ruhe aufwärmt, zur Schuldnerberatung geht, Wäsche wäscht, duscht, nach einer Wohnung fragt oder einfach nur Kaffee trinken und quatschen kann. Früher hingen sie auf dem Grünstreifen vor dem Büro ab, erzählt Ceil. Es klingt so, als wäre dieses Früher Jahre her, dabei lässt es sich in Tagen zählen.
Auf der Fensterfront steht: „Wir sind immer noch für euch am Start.“ Noch.
Fünf Jugendliche stehen vereinzelt auf dem Gehweg. Einer scrollt auf seinem Handy, sein Mund mit einem Halstuch bedeckt. Ein anderer knabbert Chips. „Wirst du mich im Rollstuhl schieben, wenn ich Corona habe?“, fragt einer der Jugendlichen seinen Freund, und sie lachen. Die Tür geht auf. Ein Sozialarbeiter ermahnt die Jugendlichen: Sie sollen auseinandergehen. Ceil geht einige Meter weg. Sie habe Angst, dass sonst die Einrichtung auch noch schließen müsse. Schon jetzt fehle ein Drittel des Budgets, weil ein wichtiger Sponsor selbst gegen Verdienstausfälle kämpft, sagt Eckhard Baumann, der Vorsitzende des Vereins. Auf der Fensterfront steht: „Wir sind immer noch für euch am Start“. Noch. Daneben hängt der von der Kontaktsperre ausgedünnte Wochenplan: die Ausflüge, der Friseur, die Rechtsanwaltsstunde und das Bouldern – alles abgesagt.
Drüben bei Instagram seht ihr Videointerviews mit Ceil
Einzeln werden die Jugendlichen hereingerufen. Statt Umarmung: Hände desinfizieren. Fünfzehn Minuten hat Ceil Zeit, um ihre Grundbedürfnisse abzuhandeln. Sie stellt ihre Bilder ab, lädt ihr Handy auf, geht auf Facebook. Als sie wenig später mit einem dampfenden Pappbecher voll Suppe wieder auf der Straße steht, fällt ihr auf, dass sie vergessen hat zu pinkeln. Ein anderes Grundbedürfnis käme jetzt auch zu kurz: „Zeit, um zu sprechen.“
In eine Sammelunterkunft, die der Berliner Senat nun extra für die „pandemischen Zeiten“ in einer Jugendherberge einrichtet, möchte sie nicht gehen. Sie fürchtet sich vor den älteren Alkoholikern und den Hautkrankheiten, die man sich dort einfangen könne. Corona scheint da nur wie eine weitere Gefahr. Hätte sie das Virus, würde sie in ihrem Zelt bleiben, sich nicht unter die Menschen mischen und sich auskurieren. Sie zuckt mit den Schultern. Vor Corona habe sie keine Angst, aber vor den Beamten, die sie verscheuchen könnten. Schon jetzt sei mehr Polizei unterwegs.
Einen Tag später wird das Ordnungsamt vor ihrem Lager stehen und ihr sagen, sie solle gehen. Aber wohin? Vor Corona fühlte sie sich an den Plätzen, wo sich das öffentliche Leben abspielt, sicher und gut. Seit Corona werden sie weniger. Sie werde mit ihrem Freund für ein bis zwei Tage einen neuen Ort suchen müssen, sagt sie am Telefon. Und dann in ihren Park zurückkehren, dieses Mal ein bisschen besser versteckt.