Da schubsen sich die Fotografen, und die Moderedaktionen verfallen in Schnappatmung: Die Schauspielerin Julia Roberts läuft beim Filmfestival in Cannes 2016 über den roten Teppich, und als sie ihre bodenlange Armani-Robe lupft, um die Treppen zu erklimmen, sieht man: nichts! Keine Schuhe. Keine High Heels. Nur nackte Füße. „Akt der Rebellion!“, kreischt das Internet, denn ein Jahr zuvor war das Festival in die Kritik geraten: Frauen beklagten, ihnen sei wegen zu flachen Schuhwerks bei einer Premiere der Einlass verwehrt worden. 2018 tut es Kristen Stewart ihrer Kollegin gleich, schlüpft aus den Stilettos und sprintet die Stufen hoch. „Politisches Statement!“, heißt es in den Zeitungen.
3.000 Frauen starben, weil ihre ausladenden Kleider in Brand gerieten
Männer müssen Hotelzimmer zerlegen oder einer Fledermaus den Kopf abbeißen, um als rebellisch zu gelten – Frauen müssen nur ohne Schuhe eine Treppe hochgehen. Umgekehrt war Kleidung immer auch ein Mittel, um Frauen einzuengen und zu erziehen. Fast tausend Jahre überdauerte beispielsweise der grausame Brauch des Füßebindens in China. Kleine Mädchen wurden von Mutter oder Großmutter malträtiert: Mit Ausnahme des großen Zehs brach man meist alle Zehen, bog sie unter die Fußsohle, bandagierte das Ganze über Jahre, bis im Erwachsenenalter ein passabler Klumpfuß in winzige Schuhe geschoben werden konnte. Böse Infektionen in absterbendem Gewebe konnten im Ausnahmefall bis zum Tod führen. Die Männer aber ergötzten sich an den auf „Lotusfüßen“ tippelnden Damen und: Man nahm auch noch an, dass der Wackelgang den Beckenboden trainieren und die Vagina verengen würde. Um 1911 wurde das Prozedere verboten und im Zuge der Kulturrevolution unter Mao Tse-tung 1949 endgültig geächtet.
Auch die Kleidermode hatte früh ihre extremen Ausprägungen: So fand der Reifrocktrend seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert in der Krinoline, einem gigantischen Unterrockgestell aus Rosshaar und später Federstahlbändern, mit einem Saumumfang von bis zu acht Metern. Er war nicht nur unpraktisch, sondern lebensgefährlich: Etliche Trendbewusste verfingen sich in Kutschrädern oder Maschinen. In den ersten beiden Jahrzehnten dieser Mode sollen allein in England rund 3.000 Frauen gestorben sein, weil ihre ausladenden Kleider in Brand gerieten. Auch Oscar Wildes Halbschwestern kamen so ums Leben: Auf einem Ball fing Marys Krinoline Feuer und entfachte das Kleid der zu Hilfe eilenden Emily gleich mit. Beide erlagen ihren Verletzungen.
„Die Preisliste für eine Sanduhrfigur war lang: Atemnot, Übelkeit, Ohnmacht, Muskelschwund, Quetschung und Verlagerung von Organen“
Weniger breit, aber mindestens so bewegungsunfähig machte Anfang des 20. Jahrhunderts der Humpelrock seine Trägerinnen. Das lange, gen Knöchel eng zulaufende Kleidungsstück, auch Mumien- oder Fesselrock genannt, ließ die Frauen ebenfalls nur in Trippelschritten vorwärtskommen: Sie stürzten Treppen hinunter oder kamen nicht schnell genug über die Straße. Mit einem über die Oberschenkel verlängerten Korsett wurde gern die Bewegungsfreiheit der Beine zusätzlich beschränkt. Das sollte ein Reißen des Saumes verhindern, falls sich eine freche Trägerin allzu hastig bewegte.
Hastige Bewegungen waren mit der Korsettmode allerdings ohnehin nicht vereinbar. Die Preisliste für eine Sanduhrfigur war lang: Atemnot, Übelkeit, Ohnmacht, Muskelschwund, Quetschung und Verlagerung von Organen. Doch selbst Berichte über tragische Todesfälle konnten dem Trend nichts anhaben – so wurde Mitte des 19. Jahrhunderts per Autopsie der Tod einer jungen Pariserin aufgeklärt: Drei ihrer Rippen hatten ihre Leber durchbohrt.
Kim Kardashians Atemübungen im Korsett
Die Idee, dass Mode bei Frauen untrennbar mit einer Taille vom Umfang eines Halses, schmerzenden Füßen und eingeschränkter Bewegungsfreiheit zusammenhängt, hat sich zum Teil bis ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Kim Kardashian jedenfalls musste vor einem Galaauftritt im Korsett fleißig das Atmen üben, um einer Ohnmacht vorzubeugen, wie anno 1890. Und wenn Drill Sergeant Heidi Klum ihre „Germany’s Next Topmodel“-Kandidatinnen ins Laufsteg-Training schickt, erinnert das an die chinesischen Lotusfüße: Da wackeln 16-jährige Mädchen in 16 Zentimeter hohen Stöckelschuhen wie auf Stelzen, immer knapp vor dem Bänderriss, immer hart an der Grenze zur Würdelosigkeit. Der Catwalk wird auch schon mal unter Wasser gesetzt oder auf einen Balken in 15 Metern Höhe verlegt. So also bereitet man Frauen auf eine Karriere in der Modebranche vor. Stil bedeutet: Disziplin! Sexyness bedeutet: Schmerz! Uralte Gleichungen, die hohe Einschaltquoten bekommen.
Sind weibliche Stilikonen denn auf immer dazu verdammt, sich für Wegstrecken über fünf Meter eine rettende männliche Armbeuge zu suchen? Müssen Körper durch den Stoff nicht nur geschmückt, sondern auch gleich noch in Form gepresst werden? Ja, auch mancher Mann schiebt sich in Slim-Fit-Jeans, die den Umfang von Thrombosestrümpfen haben. Aber das bleibt doch eher die Ausnahme. Die Frauen sind auf diesem Gebiet die Expertinnen – aktuell krümmen sich einige von ihnen auch auf ihren Bürostühlen, weil die High-Waist-Mode im Sitzen den Bauch abschnürt. Und auch die beliebte Shapewear ist nicht ungefährlich: Die Formunterwäsche drückt nicht nur unerwünschte Fettpolster und Dellen weg, sondern auch die inneren Organe zusammen. In der Folge kann es zu Verdauungsbeschwerden, Sodbrennen, geschwächter Rumpfmuskulatur oder Durchblutungsstörungen kommen.
Inzwischen gibt es aber auch neue Role Models wie Billie Eilish: Im exzentrischen Schlabberlook trampelt die 18-jährige Sängerin mit Turnschuhen auf dem „Sex sells“-Dogma herum. Im Kurzfilm „Not My Responsibility“ fragt sie: „Hättet ihr mich gern kleiner, schwächer, weicher? Wenn ich mich bequem kleide, bin ich keine Frau. Wenn ich die Hüllen fallen lasse, bin ich eine Schlampe. Für eure Meinung über mich bin ich nicht verantwortlich.“
Titelbild: Tobias Kruse/OSTKREUZ