„Es ist schrecklich“, sagt Ashraf auf die Frage, wie das Leben in der Flüchtlingsunterkunft sei. Eigentlich sollten sie dort nur zwei Tage bleiben. Nun harren sie seit fast einem Monat in dem provisorischen Containercamp aus. Für 200 Menschen gibt es gerade mal vier Duschen und drei Toiletten, warmes Wasser haben sie nicht. Ende Januar waren es hier in Kirkenes, einer kleinen Stadt im äußersten Norden Norwegens, bis zu minus 30 Grad Celsius. Der 34-jährige Syrer spricht ruhig und wirkt doch nervös. Er geht ein Risiko ein, sich jetzt, im Rahmen des internationalen Kulturfestivals „Barents Spektakel“, öffentlich zu beschweren.
An diesem Februarabend steht eine Podiumsdiskussion auf dem Programm, im „Transborder Café“ des Festivals debattieren unter anderem ein Politiker, ein Polizist und eine Menschenrechtsanwältin. Das Flüchtlingselend und die empörenden Zustände in einigen Camps haben in den vergangenen Wochen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt.
Nun ist Ashraf dran, der als Vertreter der Betroffenen zu Wort kommt. Er atmet tief durch und zählt auf, woran es noch fehlt: Essen, warme Kleidung, Geld, Internetverbindung und Transportmöglichkeiten nach Kirkenes. Der Ort ist mit 3.500 Einwohnern die größte Stadt der Region. Doch von diesem Außenposten der Zivilisation sind die Flüchtlinge weitgehend abgeschottet, ihr Camp „Vestleiren“ (Westcamp) liegt rund 15 Kilometer entfernt, direkt neben dem Flughafen. Die verschneiten Berge, zugefrorenen Flüsse und einsamen Wälder sind für die Asylsuchenden eine weiße Wüste. Sie fühlen sich wie Gefangene. Da hilft es wenig, dass sie das Camp offiziell verlassen dürfen.
Ashraf ist einer von rund 5.500 Flüchtlingen, die fast alle zwischen September und Ende November 2015 über die russische Grenze nach Norwegen kamen – mit Fahrrädern, da Russland es verbietet, die Grenze zu Fuß zu überqueren, und Norwegen Strafen wegen Schleuserei verhängt, wenn jemand im Auto mitgenommen wird. Neben Afghanen und Irakern waren es vor allem Syrer, die in einem der reichsten Länder der Welt Asyl suchten. Russland und Syrien haben eine spezielle Beziehung, auch schon vor den Waffenlieferungen und der militärischen Koalition der Russen mit dem Assad-Regime. Viele Syrer studieren deshalb in Russland und haben es leicht, ein Visum zu bekommen. Auch Ashraf kam mit einem befristeten Studentenvisum, um dem Bürgerkrieg in seiner Heimat zu entfliehen und seiner Familie mit Geld auszuhelfen. Doch als Student darf er in Russland nicht arbeiten, also wählte er die „Eisroute“ nach Norwegen. Die konservative Regierung jedoch will Flüchtlinge wie Ashraf so schnell wie möglich zurück nach Russland schicken. Sollte dies passieren, droht ihm die weitere Abschiebung nach Syrien oder Untersuchungshaft, die sich dort bis zu zwei Jahre hinziehen kann.
Zuerst übernahm die Kommune Sør-Varanger die Betreuung der ankommenden Flüchtlinge. In Kirkenes brachte man die meisten in der Sporthalle unter, tagsüber spielten sie mit den Kindern der nahe liegenden Schule Fußball. Die Stadt kümmerte sich herzlich um die vielen Flüchtlinge, die von dort aus meist nach einigen Tagen oder Wochen innerhalb Norwegens weiterverteilt wurden – in Unterkünfte, wo sie bis zur Prüfung ihres Asylantrags verweilen müssen.
Als zeitweise bis zu 200 Asylsuchende pro Tag in Kirkenes ankamen, gelangte die Gemeinde jedoch an den Rand ihrer Kapazitäten. Bürgermeister Rune Rafaelsen mahnte damals in den Medien, er fürchte, seine Heimat werde zum „arktischen Lampedusa“. So weit sei es zum Glück nicht gekommen, sagte er später im Interview. Allerdings hat er nun selbst keinen Einfluss mehr auf die Geschehnisse. Denn seit November werden die verbleibenden Flüchtlinge von der staatlichen Immigrationsbehörde Utlendingsdirektoratet (UDI) betreut und in Camps wie „Vestleiren“ untergebracht, die von der Privatfirma Hero betrieben werden. Dort harren die Asylsuchenden ihrer Anhörung und der drohenden Abschiebung. 70 von ihnen wurde schon eröffnet, dass sie zurück nach Russland müssen. Die Regierung hat trotz der Kritik des UN-Flüchtlingshilfswerks an ihrer Einstufung Russlands als „sicheres Drittland“ festgehalten und will unter anderem Syrer mit russischem Visum ohne Anhörung abschieben.
Bürgermeister Rafaelsen ist ebenfalls anwesend beim Diskussionsabend im „Transborder Café“ und zeigt sich geschockt von Ashrafs Schilderungen. Er verspricht, sich umgehend mit der Immigrationsbehörde UDI in Verbindung setzen. Nach dem Talk berichtet Ashraf, dass ein Landsmann im Camp krank geworden sei. Als nach langem Warten ein Arzt kam, habe der nur gesagt: „Solange du kein Blut spuckst, kann ich nichts tun.“ Der bärtige Mann sitzt nun mit den ehrenamtlichen Helfern von „Refugees Welcome to the Arctic“ zusammen. Eine von ihnen ist Merete Eriksson. Die 46-jährige Volkshochschullehrerin organisiert in ihrer Freizeit für die Flüchtlinge Ausflüge ins Schwimmbad, sie lädt Familien zu sich nach Hause ein, organisiert Obst und warme Kleidung.
„Solange Du kein Blut spuckst, kann ich nichts tun.“
Den Zahnarzt Tarik und die Archäologin Laila bewahrte sie sogar vor der Abschiebung. Am 21. Januar sollte das Ehepaar mit einer Gruppe anderer Flüchtlinge abtransportiert werden. Eriksson stellte sich morgens vor das Camp, nahm die beiden Syrer und einen Dritten in ihrem Auto mit und fuhr los. Über Umwege gelangten die Flüchtlinge ins Kirchenasyl in Kirkenes und waren dort erst einmal sicher. Ihr russisches Visum sollte am nächsten Tag ablaufen. Als Eriksson und ihre Mitstreiter weitere Flüchtlinge am Camp einsammeln wollten, wurden sie verhaftet. Erst am Abend ließ die Polizei sie wieder frei. „Ich dachte, dass ich plötzlich keine Rechte mehr habe“, sagt Eriksson. Doch ihr Engagement hat sich gelohnt. Die Abschiebungen der gesamten Gruppe wurden kurze Zeit ausgesetzt, außerdem bekamen Tarik und Laila, die bald ihr erstes Kind erwarten, nach einer Woche im Kirchenasyl eine erneute Anhörung und durften doch bleiben.
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Posted by Refugees Welcome to the Arctic on Dienstag, 15. März 2016
Das eigentliche Elend der Flüchtlinge spielt sich in einer abgeschotteten Welt ab, in der die Helfer nicht viel ausrichten können. „Selbst im Gefängnis darf man Besuch empfangen“, empört sich Eriksson, „trotzdem ist das Camp für uns Ehrenamtliche Sperrgebiet.“ Und das ist es auch für die Presse. Eigentlich. Doch dann öffnet es sich wenigstens einen Spaltbreit für den Blick der Öffentlichkeit: Im Rahmen des „Barents Spektakel“ bemalen zurzeit vier russische Künstler die Innenwände zweier Container, und der Festival-Fotograf darf ihre Arbeit dokumentieren – er bietet der Autorin an, ihn zu begleiten.
„Selbst im Gefängnis darf man Besuch empfangen, trotzdem ist das Camp für uns Ehrenamtliche Sperrgebiet.“
Das Camp ist eine Ansammlung von weißen, leicht rostigen Containern sowie einem roten Hauptgebäude, das mal eine Militärkaserne war. Auf dem Hof türmt sich ein vereister Schneeberg, um den einzelne Männer schleichen.
Mit Pralinenschachteln bedankt sich eine Camp-Mitarbeiterin für die freiwillige Arbeit der Künstler. Ihre Kollegin, eine gebürtige Britin, führt uns nun über das Gelände zum zukünftigen Aufenthaltsraum für die Kinder. Einige von ihnen schauen dem Maler stumm zu, wie er eine Weltkugel und eine raumfüllende Friedenstaube zeichnet, die in die Freiheit fliegt.
Ein Syrer sagt: „Schaut euch nicht nur die Bilder an, sondern guckt mal, wie wir hausen müssen.“ Kurz entschlossen folgen wir ihm in seinen Containerbereich. Zwei Stockbetten füllen den zellenartigen Miniraum, die Kleidung stapelt sich in blauen Müllsäcken. Hier lebt er mit seiner Frau und den drei Kindern. Der kräftige Mittvierziger zittert, ihm stehen die Tränen in den Augen. „Darüber solltet ihr berichten“, bittet er. „Das ist nicht die Presse“, sagt die Mitarbeiterin streng und fordert uns nun auf weiterzugehen. „Wenn es ihnen nicht passt, können sie ja gehen“, fügt sie hinzu. Ihr Mann sei beim norwegischen Militär, er war für ein Jahr in Afghanistan. „Ich habe schon Schlimmeres gesehen.“ Dann führt sie uns in ihre Büroräume, wo es wesentlich wärmer ist als bei dem Syrer und seiner Familie.
„Es ist für mich immer noch schockierend, dass so etwas in Norwegen passiert.“
Vier Tage nach diesem Besuch in „Vestleiren“ schreiben Eriksson und ihre Kollegen einen Beschwerdebrief an den „Sivilombudsmannen“, den unabhängigen Petitionsbeauftragten des norwegischen Parlaments, um die Zustände im Camp anzuprangern und dass Flüchtlinge dort forciert wurden, Papiere auf Norwegisch ohne Zugang zu Anwälten und Dolmetschern zu unterschreiben.
Als zeitgleich die Wandgemälde fertig sind, wird plötzlich die Presse in ausgewählte Bereiche des Camps gelassen. Hero und UDI, die schon öfter für die kostensparende Betreibung der Flüchtlingsunterkünfte kritisiert wurden, erklären sich. Ein UDI-Mitarbeiter beteuert, es solle mehr Duschen geben und die Angestellte, die einen Joghurt nach einem Flüchtlingskind geworfen hat, sei entlassen worden.
Eriksson und ihre Mitstreiter bleiben im täglichen Austausch mit den Flüchtlingen. Ashraf und der Familienvater, der mit uns im Camp sprach, bangen weiter. „Es ist für mich immer noch schockierend, dass so etwas in Norwegen passiert“, sagt Eriksson.
Alva Gehrmann ist freie Journalistin und Buchautorin aus Berlin, die seit Jahren viel über Nordeuropa berichtet und dort auch gerne mal für mehrere Monate lebt. Für diese Reportage ist sie in den nördlichsten Winkel Norwegens gereist. Ursprünglich wollte sie nur über das Kulturfestival „Barents Spektakel“ berichten, bis sie einige Flüchtlinge und ehrenamtliche Helfer kennenlernte.