Wenn ein Wort in der Fremde überleben will, muss es kurz sein und knackiger als die einheimische Konkurrenz. Das ist einer der Gründe, weshalb es im Deutschen so viele Anglizismen gibt. Notfalls erfinden wir uns sogar ein Englisch klingendes Wort und sprechen lieber vom „Handy“ als vom Mobiltelefon. Kaum eine andere Sprache teilt die Eigenart des Deutschen, manche Worte aus mehreren Begriffen zusammenzusetzen. Was oft sperrig erscheint, wie beim fünfsilbigen Mobiltelefon, ist in anderen Fällen ein Vorteil – wie beim Doppelgänger, dem Hinterland, dem Weltschmerz oder der Schadenfreude. Seine Handlichkeit ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass ausgerechnet der Zeitgeist in Weltsprachen wie dem Englischen, Französischen und Spanischen eine so steile Karriere gemacht hat.

Schöpfer des Wortes ist der Dichter Johann Gottfried Herder, der 1769 die lateinische Wendung „genius saeculi“ knapp mit Zeitgeist übersetzte. Seitdem bezeichnet das Wort ein nicht näher bestimmtes Bündel an sozialen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Wertvorstellungen, die das geistige Klima einer wiederum ganz bestimmten Ära beeinflussen. Wer vom Zeitgeist spricht, meint die gültigen Bedingungen einer gewissen Periode und deutet zugleich an, dass diese Bedingungen selbst Veränderungen unterworfen sind.

Das ist ein philosophischer und damit vielleicht auch typisch deutscher Gedanke, für den es in anderen Sprachen keine echte Entsprechung gibt. Im Englischen wäre der Zeitgeist unbeholfen mit „spirit of the age“ oder unvollständig mit „social climate“ zu übersetzen. Im Französischen bietet sich zwar das elegante „élan du jour“ an, macht aber zu viel Worte. Der alte deutsche Zeitgeist, so scheint es, hat im Ausland eine Präzisionslücke gefüllt. Wie aber konnte er zum Modewort, zum Buzzword werden, das er heute ist?

Google-Volltextanalysen zeigen, dass sich das Wort erstmals zur Hochzeit des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert bis in anglophone Fachkreise herumgesprochen hat. Wenn ein englischsprachiger Philosoph oder Philologie in jenen Tagen etwas von Hegel, Goethe oder Max Weber liest, dem fällt dieses praktische Fremdwort auf und verwendet es weiter. Populiarisiert wurde das Wort durch den Dichter und Kulturkritiker Matthew Arnold, der damit 1848 die rasanten sozialen Veränderungen im viktorianischen England beschrieb. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs steigt der Gebrauch des Wortes Zeitgeist kontinuierlich – doch mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland im Jahr 1933 erfährt seine Verbreitung einen empfindlichen Dämpfer, von dem es sich kaum mehr erholt. Die Sprache der Denker ist nun die Sprache der Henker.

Und dann kam der „Zeitgeist“ selbst in Mode

Erst in den 1960er-Jahren beginnt der eigentliche Siegeszug des Wortes, und er beginnt mit dem modischen Auf- und Umbruch dieser Jahre. In dem Karussell saisonaler sich ablösender Trends kann das, was heute „en vogue“ oder „in“ ist, morgen schon „passé“ oder „out“ sein. Warum tragen Frauen plötzlich Nylonstrümpfe und Männer keine Hüte mehr? Wer ernsthaft über die tieferen Gründe für diese und andere Phänomene nachgrübelte, kam um den Zeitgeist als erklärenden Sammelbegriff für die Ideen, Überzeugungen und Interessen einer Mehrheit der Menschen zu einer bestimmten Zeit nicht mehr herum.

Nun ist Zeitgeist zwar griffiger, aber ähnlich schwammig wie „spirit of the age“. Zugute kam ihm aber, dass seine Verwendung – zusammen mit anderen Germanismen – selbst zu einer Mode wurde. Schon immer setzten sich gebildete Kreise gerne durch die Verwendung von Fremdwörtern von der Allgemeinheit ab, und da machen Universitäten in New York, London, Paris oder Rom keine Ausnahme. Ebenso üblich ist das Durchsickern modischer Fachbegriffe in den alltäglichen Sprachgebrauch, wo sich mit korrekter Aussprache prunken und punkten lässt. Höhepunkt der Karriere eines Wortes endlich ist seine offizielle Einbürgerung in eine Alltagssprache, aus der es nicht mehr wegzudenken ist. Zeitgeist entspricht dem Zeitgeist.