Vor einem Jahr hätten sie ihr Kind beinahe verloren – durch einen Bescheid des Jugendamtes. Weil sie immer wieder vergessen hatten, für ihre damals dreijährige Tochter zu kochen, und auch sonst mit dem Haushalt überfordert schienen. Und dann war Sarah von Sven auch noch ein zweites Mal schwanger. „Wir hatten auch Stress mit unseren Nachbarn, und die Wohnung war schimmelig. Wenn alles zu viel wurde, haben wir das mit dem Kind vergessen“, sagt Sven. „Man hat uns ja auch nicht vertraut, wegen der geistigen Behinderung.“

Dass Eltern ein geistig behindertes Kind bekommen, davon hört man öfter. Dass aber umgekehrt geistig behinderte Menschen Kinder bekommen – das ist vielen ein ziemlich fremder Gedanke, schon aus der Befürchtung heraus, dass das Kind ebenfalls behindert sein könnte. Doch dass Eltern mit Behinderung häufiger Kinder mit Behinderung bekommen, ist in den meisten Fällen falsch. Nur ein relativ geringer Prozentsatz aller geistigen Behinderungen wie zum Beispiel eine Form der Trisomie 21 ist überhaupt genetisch vererbbar. In vielen Fällen ist ein Unglück der Grund für das Handicap – Sauerstoffmangel bei der Geburt etwa oder Verkehrsunfälle.

Die Vorbehalte und Zweifel gegenüber den Eltern mit Handicap sind dennoch groß, dabei ist die Entscheidung für oder gegen Kinder ein Menschenrecht und nicht abhängig von körperlichen Einschränkungen oder Lernbehinderungen. „Die Vorurteile halten sich sehr hartnäckig. Selbst in manchen Jugendämtern wird Eltern mit geistiger Behinderung noch mit der sofortigen Wegnahme des Kindes gedroht“, sagt Ursula Pixa-Kettner. Die Psychologin forschte lange Zeit an der Universität Bremen zum Thema „Familien mit geistiger Behinderung“. Erst das Betreuungsgesetz vom 1. Januar 1992 verbot die Sterilisation im „Interesse der Allgemeinheit“ oder im Interesse von Verwandten; eine Sterilisation gegen den Willen der betroffenen Person durfte nicht mehr durchgeführt werden.

Auch so wurde oft über den Kopf der behinderten Menschen hinwegentschieden. Wenn diese ein Kind bekamen, wurde das oft innerhalb der Familie geregelt. Plötzlich wurde aus der Tante die Mutter, oder das Kind kam in eine Pflegefamilie. Auch heute noch gebe es in vielen Behin- derteneinrichtungen Zwangsverhütung, etwa durch die unbemerkte Verabreichung der Pille, sagt Pixa-Kettner. „Das Thema ist längst noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zum Beispiel gibt es ein klares Nord-Süd-Gefälle; in Bayern gibt es nur wenige Stellen, die sich um Familien mit Handicap kümmern.“

Als die ersten Einrichtungen zur Unterstützung geistig behinderter Eltern entstanden, waren die Anfeindungen groß, inzwischen gibt es gerade in Norddeutschland einige etablierte Betreuungsangebote. Für Sarah und Sven Maier war das die Lösung. Ein Weg, wie sie ihre Kinder behalten konnten. „Wir wollen doch gute Eltern sein, und dafür muss man ja nicht lesen können oder so was“, sagt Sarah. Das Jugendamt gab den beiden die Adresse einer Einrichtung in Hamburg. In einem Haus der Evangelischen Stiftung Alsterdorf war gerade eine Wohnung frei geworden.

„Schön ist es hier“, sagt Sven und umklammert seine Kaffeetasse. „Nur etwas weit vom Schuss.“ Ein wenig müde wirkt der 32-Jährige, dunkel zeichnen sich die Augenringe ab. Seine kleine Tochter, gerade ein paar Monate alt, schläft neben ihm im Kindersitz, die ältere blickt nach draußen in den Garten, wo das Laub die Spielecke fast vollständig bedeckt hat. „Noch vor ein paar Jahren wollte ich keine Kinder. Heute ist es zwar oft anstrengend, aber ein tolles Gefühl.“

Derzeit leben elf Familien im Haus – alle in eigenen Wohnungen. „Wir helfen den Eltern dabei, eine Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, und unterstützen sie bei allen Aspekten des Elternseins. Die Erziehung der Kinder nehmen wir ihnen aber nicht aus der Hand“, sagt Leiterin Elfriede Ruzanska. Morgens und abends schauen die Betreuer nach den Kindern, bei Babys oder bei einer Krankheit auch mal öfter. 24 Stunden, sieben Tage die Woche ist das Mitarbeiterbüro im Erdgeschoss besetzt. Fragen im Alltag der Familien gibt es genug. Das beginnt beim Wickeln und Baden der Babys und endet bei der gesunden Ernährung, wettergerechter Kleidung und der richtigen Uhrzeit für den Kindergarten. Auch bei Behördengängen und Arztbesuchen hilft man den Eltern. Finanziert wird das alles hauptsächlich durch die Wiedereingliederungshilfe und andere Zuschüsse von Jugend- und Sozialamt.

Spätestens nach fünf Jahren müssen die Familien die Einrichtung verlassen. „Unser Ziel ist es, den Eltern die nötige Stabilität für ein unabhängiges Familienleben zu geben“, sagt Ruzanska. Allein gelassen werden die Familien aber auch nach dem Auszug nicht, dafür gibt es ambulante Familiendienste wie den in Hamburg-Bramfeld.

Die Häuserblocks des ehemaligen Arbeiterviertels sind groß, die Modernisierung läuft eher schleppend, weshalb der Wohnraum noch erschwinglich ist. Zwölf Familien werden von dem kleinen Büro der Alsterdorf-Assistenz betreut. Sie bekommen, wenn nötig, Hilfe im Haushalt oder auch bei Behördengängen.

Vier- bis fünfmal pro Woche hat das fünfköpfige Pädagogenteam auch mit Familie Schmidt Kontakt. „Im Haushalt hat sich unser Leben eingespielt, Hilfe brauche ich eigentlich vor allem bei den Behördensachen, manche Anträge versteht man einfach nicht. Auch beim Arzt ist das oft schwer“, sagt Maike Schmidt, deren achtjährige Tochter in die zweite Klasse geht. Weil ihre Mutter nicht gut lesen und rechnen kann, hilft eine Betreuerin regelmäßig bei den Hausaufgaben. Außerdem gehen die beiden einmal pro Woche in die Bücherei und lesen gemeinsam. „Ich möchte, dass meine Tochter besser lesen kann als ich und dass sie die Schule schafft.“

„Wenn die Eltern einen sehr eingeschränkten Wortschatz haben, wirkt sich das auch auf das Kind aus“, sagt die Wissenschaftlerin Pixa-Kettner. Ausgleichen lässt sich das durch den Kontakt zu anderen Kindern im Kindergarten und in der Schule, zudem gibt es in vielen Einrichtungen eine gezielte Förderung.

Und dann kommt irgendwann der Punkt, an dem die Kinder ihre Eltern über- flügeln, sie plötzlich besser lesen und rechnen können. Sie entdecken dann die Grenzen ihrer Eltern und dass sie anders sind als die Eltern ihrer Freunde. Das ist nicht immer leicht.

Dass das Familienleben auch bei Menschen mit Behinderung funktioniert, davon ist Pixa-Kettner fest überzeugt. Auch wenn es Fälle gibt, bei denen dazu ein engmaschiges Netz aus Hilfsangeboten nötig ist. Viele behinderte Menschen sind gewohnt, Unterstützung anzunehmen, und befinden sich meist seit Langem in einem Hilfesystem, wenn sie Kinder bekommen. Die Einrichtungen erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder gut versorgt sind, und erleichtern den Jugendämtern die Arbeit. Bei vielen anderen Familien in sogenannten Problemvierteln ist dieser Zugang deutlich schwerer, und keiner kann genau sagen, was hinter verschlossenen Türen passiert.