An den Wänden hängen Holzschilder mit eingravierten Merksätzen: „Ich-Sein erlaubt“; „Hast du schon einmal einen normalen Menschen gesehen? Wir nicht“. Und: „Nein sagen erlaubt“. Ein paar rote Stühle stehen herum, ein schlichter Holztisch. „In diesem Zimmer“, sagt Jörg Schuh, „geben wir den Betroffenen die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen miteinander zu reden.“ Es ist der Gruppenraum von „Tauwetter e.V.“ in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Ein Selbsthilfeverein für Männer, die als Jungs sexuell missbraucht wurden.
Später finden sich die Geschichten dann vielleicht auch auf der Website des Vereins. Hannes etwa schreibt hier, was ihm sein Vater angetan hat: „Er kommt durchs Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. Ich bin ganz an die Wand gekrochen, habe mich klein zusammengerollt, den Rücken zur Tür, den Kopf tief eingezogen, die Augen fest zugekniffen. Ein Stein. So klein, dass ich fast durch die Ritze hinterm Bett verschwinden kann, unsichtbar. Aber er weiß, dass ich da bin, ich spüre ihn auf der Bettkante, er fasst mich an, ich drehe mich um, und seine Hand kommt in meinen Schlafanzug. Hinterher nimmt er meine Unterhose, um alles aufzuwischen, und fragt mich, ob es mir gefallen hat, und ich grunze irgendwas Undefinierbares.“
Lange Zeit war sexuelle Gewalt an Jungen ein Thema, das von der Medienöffentlichkeit wenig wahrgenommen wurde. Durch Missbrauchsfälle wie die am katholischen Canisius-Kolleg und an der reformpädagogischen Odenwaldschule hat sich das geändert. Laut Bundeskriminalamt wurden 2013 über 14.000 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs. Ein Viertel von ihnen war männlich. Allerdings, gibt Jörg Schuh zu bedenken, sei dies nur die öffentliche Statistik mit den tatsächlich angezeigten Fällen. Die Dunkelziffer, so nimmt er an, liege weitaus höher. „Man kann davon ausgehen, dass zehn Prozent aller Männer Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht haben.“
Jörg Schuh, 47 Jahre alt, schulterlanges schwarzes Haar, Jeans, legerer hellblauer Kapuzenpulli, arbeitet seit 2010 als Sozialpädagoge für Tauwetter. Wie alle Mitarbeiter des Vereins ist auch er selbst Missbrauchsopfer. „Ich glaube“, sagt er, „dass es hilft, wenn man Betroffener war. Ich weiß, wie man sich fühlt, was mir geholfen hat. Das schafft Vertrauen.“ Vor zehn Jahren saß er noch selbst in einer Selbsthilfegruppe. „Man sieht, dass andere die gleichen Probleme und Ängste haben. Man ist kein Einzelkämpfer mehr, der alles in sich hineinfrisst.“
Seine eigene Missbrauchsgeschichte begann, als er neun Jahre alt war. Es war Sommer, er übernachtete mit seinem sechs Jahre älteren Halbbruder gemeinsam im Garten der Eltern. Sein Halbbruder wollte, dass er ihn anfasst und befriedigt. „Ich war neugierig und dachte, dass ich ihm etwas Gutes tun würde. Es war ein bisschen eklig und zugleich spannend. Jetzt hatte ich ein Geheimnis mit meinem großen Bruder, von dem ich den Eltern natürlich nichts erzählen durfte.“
Die Folgeschäden des Missbrauchs haben sein Leben noch lange bestimmt
Sein Bruder missbrauchte ihn über einen Zeitraum von drei Jahren. Als ihn Jörg Schuh Jahrzehnte später zur Rede stellte, war sich dieser keiner Schuld bewusst. „Er rechtfertigte sich damit, dass ich doch mitgemacht und Bock darauf gehabt hätte. Er wollte nicht wahrhaben, dass er seine Macht als älterer Bruder ausgenutzt hat.“ Bis zum heutigen Tage habe er alles verdrängt, sich niemals bei ihm entschuldigt. Kontakt haben sie schon lange keinen mehr.
Die Folgeschäden des Missbrauchs haben Jörg Schuhs Leben lange bestimmt. Seine Stimme klingt jetzt aufgewühlt: „Mit zehn Jahren fing ich an zu stottern.“ Er ging zur Logopädin, hatte starke Konzentrationsschwächen. Später konnte er nur noch an Sex denken, brauchte Anerkennung durch Sex. Dieses Verhaltensmuster verfestigte sich als Jugendlicher und Erwachsener. Er schlief wahllos mit Frauen und mitunter auch mit Männern. Hatte er eine Beziehung, war ihm seine Sexualität egal. Er hatte eine Schutzhülle um sich aufgebaut, fühlte sich taub beim Sex. Er sagt: „Ich war nicht wichtig. Das, was ich mit meinem Bruder gemacht habe, machte ich dann jahrelang mit anderen. Ich habe die Frauen befriedigt, wollte, dass es ihnen gut geht. Das konnte ich ja, so hatte ich es gelernt. Ich wusste gar nicht, was ich eigentlich will. Mein Bruder hat mir die Möglichkeit genommen, meine eigene Sexualität selbst entdecken zu dürfen.“
Jörg Schuh trank, hatte Krisen, ging in die Therapie, wurde Sozialarbeiter und kam schließlich zu Tauwetter. Es habe sehr lange gedauert, sagt er jetzt wieder mit gefestigter Stimme, bis alles aufgearbeitet war. Als Sozialarbeiter weiß er heute, dass sich die Täter an ihrer Macht aufgeilen und durch den Sex mit Kindern ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe kompensieren. Trotzdem hinterlasse jede sexuelle Gewalt eine Narbe. Aber, und das sage er auch den Betroffenen immer, eine Narbe sei etwas anderes als eine offene Wunde, die eitert und sich entzünden kann. Die Selbsthilfegruppen bei Tauwetter seien eine Möglichkeit, diese Wunden zu Narben verheilen zu lassen.
Neben den Selbsthilfegruppen bietet Tauwetter e.V. Beratungen per Telefon, E-Mail oder persönlich an. 2014 wurde der Verein nach eigenen Angaben 1300-mal kontaktiert, 700 Beratungen fanden statt, sechs Selbsthilfegruppen mit mindestens zwölf Teilnehmern liefen parallel. Die Männer, die Tauwetter aufsuchen, sind im Durchschnitt 35 Jahre alt und kommen aus allen sozialen Milieus. Ebenso wichtig ist für Tauwetter die Prävention. Denn überall, wo es Macht- und Vertrauensstrukturen gibt, kommt es zu sexuellem Missbrauch an Kindern – etwa in der Familie, der Schule, in der Kirche, im Sportverein. Fremdtäter sind dabei eher die Ausnahme. Die meisten Täter kommen aus dem sozialen Nahbereich. An Schulen erarbeitet Tauwetter zusammen mit Lehrern und Betreuern Verhaltenskodexe und Verfahrenswege bei Beschuldigungen und hilft, Unterstützungs- und Hilfesysteme strukturell zu etablieren. Die Kinder sollen lernen, auch einmal „Nein“ oder „Das will ich nicht“ zu sagen und nicht alles willenlos mit sich geschehen zu lassen.
Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Als er 12 oder 13 war, onanierte einmal ein älterer Herr neben ihm auf einer öffentlichen Toilette. Sein Schamgefühl hielt ihn davon ab, mit seinen Eltern oder Freunden darüber zu reden.