Auf den ersten Blick wirkt das Video wie der authentische Bericht eines Fernsehkorrespondenten. Ähnlich wie beim „Weltspiegel“ der ARD, wenn der Korrespondent selbst im Bild zu sehen ist, um den persönlichen Bezug herzustellen. Hier ist es der Brite John Cantlie. Er fährt mit dem Auto durch die irakische Stadt Mossul. Die Stadt im Norden des Landes wurde im Sommer 2014 von den islamistischen Terroristen eingenommen und zur „Hauptstadt“ des Islamischen Staates (IS) oder seines „Kalifats“. So nennt die dschihadistisch-salafistische Organisation selbst das im Nordwesten des Irak und im Osten Syriens besetzte zusammenhängende Gebiet. Cantlie soll offenbar zeigen, wie „normal“ das Leben in Mossul, der zweitgrößten irakischen Stadt, ist. „Diese Stadt lebt nicht in Angst, wie es die westlichen Medien glauben machen möchten“, sagt er in die Kamera. Dann sieht man, wie Cantlie über einen Markt spaziert, auf einem Polizeimotorrad samt IS-Kämpfer hintendrauf durch die Straßen fährt und ein Krankenhaus besucht. Alles wirkt harmlos. So harmlos, dass es bedrückend wirkt.

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Grauenhafter Mix von Emotionen: Schrecken verbreiten und sich dann wieder als Wohltäter inszenieren

Grauenhafter Mix von Emotionen: Schrecken verbreiten und sich dann wieder als Wohltäter inszenieren

Denn Cantlie litt vermutlich während des gesamten Videodrehs Todesängste. Seit 2012 ist er Geisel des IS. Er arbeitete als Fotograf im Irak und in Syrien und wurde dort zusammen mit dem US-amerikanischen Journalisten James Fowley entführt. Fowley haben die IS-Kämpfer ermordet, seine Tötung wurde aufgezeichnet und als sogenanntes Hinrichtungsvideo verbreitet. Mittlerweile bezweifeln Experten die Echtheit der gezeigten Hinrichtung. Fowley wurde wohl auf andere Weise ermordet.

Cantlie haben die Dschihadisten am Leben gelassen – bisher. Anscheinend nur, um die IS-Ideologie zu verbreiten. In anderen Videos trat Cantlie in einem an die Kleidung der Guantánamo-Häftlinge erinnernden orangefarbenen Overall auf und beschimpfte den Westen und die USA. Das Anfang Januar auf YouTube gepostete Video aus Mossul ist das zweite seit seiner Entführung, das ihn in ziviler Kleidung zeigt. Und das Erschreckende daran ist, wie professionell es gemacht ist.

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Das Orange der hingerichteten Geiseln – wohl ein Verweis auf die Häftlingskleidung in Guantánamo

Das Orange der hingerichteten Geiseln – wohl ein Verweis auf die Häftlingskleidung in Guantánamo

Es ist Teil einer innovativen und effektiven Propaganda des IS für den Dschihad, den heiligen Krieg. Das Terrornetzwerk al-Qaida hatte seine Statements noch oft mit körnigen Videos auf VHS-Kassetten verbreitet, in denen alte Männer mit Maschinengewehren in Höhlen sitzen und ermüdende Monologe halten. Der IS dagegen dreht dynamische Videos und verbreitet seine Ideologie über Facebook, Twitter und Instagram. Wie professionelle Werber scheinen die IS-Leute verstanden zu haben, worauf es dabei ankommt: einen guten Mix an Emotionen. So gibt es Instagram-Fotos von Kämpfern mit Kalaschnikows und Katzen auf dem Arm. Über Twitter oder das Frage-Portal Ask.fm traten die Dschihadisten in Kontakt mit Sympathisanten. In einem Atemzug redeten sie davon, welcher Kamerad ihnen gerade ihre Süßigkeiten geklaut hat  und wie man „Ungläubige“ tötet.

Auch mit dem Computerhacken kennen sich die Propagandisten scheinbar aus. So haben sie offenbar am 12. Januar den Twitter-Account und den YouTube-Kanal des zentralen Einsatzkommandos der US-Streitkräfte übernommen. Und als Twitter im Sommer letzten Jahres begann, ihre Konten zu löschen, machten sie eben neue auf – und kreierten eigene Apps, die es Sympathisanten erlaubten, ihre Konten dem IS zur Verfügung zu stellen. Bei den Tweets handelt es sich nicht nur um „lustige“ Bilddateien oder Low-Budget-YouTube-Videos. „Flames of war“ (Flammen des Kriegs) heißt eine krude Mischung aus „Dokumentation“ und Spielfilm, aber aufwendig produziert in HD. „Es ist eine tödliche Mischung aus Dschihad-Ideologie und westlicher Jugendkultur“, sagt Asiem El Difraoui. Der ägyptisch-deutsche Politologe und Journalist gilt als Fachmann für dschihadistische Internetpropaganda.

Doch woher kommt diese Expertise in moderner Internetpropaganda? Zum einen kauft sich der IS nach Einschätzung El Difraouis die nötigen Fachkräfte einfach ein. Im vergangenen Jahr ist die Organisation enorm gewachsen und verfügt dank der Finanzierung durch reiche Privatleute sowie durch Erpressung, Kunstraub, Schmuggelgeschäfte und die Ölquellen in den eroberten Gebieten über ein nicht zu unterschätzendes Einkommen. Das macht den IS in den armen Nahost-Gebieten als Arbeitgeber attraktiv. Über Twitter suchte der IS 2014 konkret nach Toningenieuren und Experten in 3ds Max, einem Grafikprogramm. Dazu kommen Rekruten, die wahrscheinlich die Ideologie angelockt hat, wie der deutsche Gangsta-Rapper Dennis Cuspert alias Deso Dogg oder sein Londoner Pendant Jihadi John (Abd al-Madsched). Politologe El Difraoui nennt sie „Ikonen des Facebook-Dschihads“. Sie würden die Codes, Gesten und die Ästhetik europäischer Jugendsubkultur nutzen und damit die Propaganda des IS entscheidend prägen. „Die IS-Führer wissen ganz genau, dass die jungen Leute aus dem Westen mit Smartphone und Kamera meist besser umgehen können als mit Sturmgewehren“, sagt El Difraoui. Wer es kann, wird für den Medienkrieg im weltweiten Netz ausgewählt.

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Auch ein klassisches Magazin gehört zum schauerlichen Kommunikationsmix der Terrormiliz

Auch ein klassisches Magazin gehört zum schauerlichen Kommunikationsmix der Terrormiliz

Gegen all diese Medienexpertise des IS wirkt al-Qaida hoffnungslos altbacken und reaktionär. Doch El Difraoui warnt vor vorschnellen Urteilen. Vielmehr sei die IS-Propaganda vor allem eine Weiterführung von Al-Qaida-Strategien. Auch diese hätten sich geändert. Bereits 2004 hat einer der Al-Qaida-Chefideologen, der Syrer Abu Musab al-Suri, den Strategiewechsel beschrieben. Ziel sei es nicht mehr, zentral durch Medienabteilungen dschihadistischer Organisationen zu kommunizieren, sondern eine Propagandablaupause zu erstellen, die weltweit von Sympathisanten für jede Zielgruppe übernommen werden kann.

Der seit 2003 (damals allerdings noch unter anderem Namen) aktive IS und die rund 15 Jahre ältere Terrororganisation al-Qaida mögen heute Rivalen sein, sagt El Difraoui. In ihrer Propaganda gehe es aber beiden um das Gleiche: einen „Epos“ zu schaffen, in dem der Märtyrertod von Selbstmordattentätern als Hauptwaffe der asymmetrischen Kriegsführung im Mittelpunkt steht. Diese Art des Krieges, die darauf aus ist, einem vermeintlich überlegenen Gegner mit nadelstichartigen Angriffen zuzusetzen und ihn zu zermürben, ist die bevorzugte Taktik sehr vieler Terroristen, nicht nur jener des IS. Und nicht zu vergessen: Das größte Medienereignis durch Terror hat mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA immer noch al-Qaida produziert.