fluter.de: Viele Wirtschaftswissenschaftler weisen darauf hin, dass die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Wie sieht es aus im Wettstreit um das knappe Gut Aufmerksamkeit, der „Aufmerksamkeitsökonomie“?

Georg Franck: Da hat sich das ebenfalls sehr weit auseinandergezogen. An den extremen Enden gibt es die Celebrities, die in Aufmerksamkeit baden und genau deshalb immer noch mehr Aufmerksamkeit einnehmen. Und dann gibt es die armen Schlucker, die nicht mehr genügend Aufmerksamkeit kriegen, um ihr Selbstwertgefühl intakt zu halten.

Aber verschaffen die sozialen Medien den Leuten nicht zumindest auf kleinerer Ebene ein bisschen Aufmerksamkeit und das gute Gefühl, von den Freunden und Bekannten wahrgenommen zu werden?

Unbedingt, das ist auch der ungeheure Reiz dieser Medien. Was früher der geistigen Elite der Künstler und Wissenschaftler vorbehalten war, nämlich für den Lohn des Ruhms zu arbeiten, ist herabskaliert worden. Heute kann das jeder tun, der ein Video auf Youtube hochlädt oder irgendwas auf Facebook postet. Da wurde ein früheres Privileg zweifellos sozialisiert. Aber so einfach ist es mit der Aufmerksamkeitsökonomie eben auch nicht. In dieser digitalisierten Ökonomie ist es jetzt noch leichter, als es im persönlichen Umfeld war, sich übergangen zu fühlen und zu glauben, nicht die Aufmerksamkeit zu bekommen, die man meint zu verdienen. Wie bitter nötig wir Menschen es haben, wahrgenommen zu werden, zeigt sich dann an der Notwehr, zu der viele greifen.

„Wenn ich in der Aufmerksamkeitsökonomie um mein Selbstwertgefühl kämpfe, ist es mir egal, ob die Geschichten, die ich aufschnappe und selber in Umlauf bringe, wahr sind oder nicht“

Wie sieht die aus?

Dass man sich und anderen einredet, dass diejenigen, die einem die ach so ersehnte Aufmerksamkeit verweigern, selber der Achtung nicht wert sind. Da sind wir dann auch schon bei der heutigen Elitenkritik und ganz allgemein beim Ressentiment. Das hat deshalb so ungeheure Chancen in den sozialen Medien, weil es seinerseits abhängig ist von Resonanz und leicht die Zustimmung derjenigen findet, die selbst das Ressentiment pflegen. Denn diejenigen, die nach Verschwörungstheorien, Gerüchten, Lügen und Halbwahrheiten suchen, sind besonders bereit, solchen Geschichten Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb ist das Bedienen von Ressentiments eine weit verbreitete Strategie geworden, um sich Aufmerksamkeit zu beschaffen. Wenn ich in der Aufmerksamkeitsökonomie um mein Selbstwertgefühl kämpfe, ist es mir egal, ob die Geschichten, die ich aufschnappe und selber in Umlauf bringe, wahr sind oder nicht.

Versetzt es die Menschen in Unruhe, dass es heute theoretisch möglich wäre, in kürzester Zeit zum Aufmerksamkeitsmillionär zu werden?

Dadurch ist ein großer Druck im Kessel. Es wird einem ja ständig vor der Nase herumgewedelt, dass andere in kürzester Zeit auf Youtube oder Facebook Klick-Millionäre geworden sind. Das ist nicht anders als in der Geldökonomie, wo das Auto vor der Garage des Nachbarn bei einem selber den Druck erhöht, mitziehen zu müssen. Entscheidend ist, dass durch die sozialen Medien nun auch in der Aufmerksamkeitsökonomie die Sichtbarkeit des Status viel größer geworden ist. Es wurde eine neue Währung eingeführt, in der diese persönliche Attraktionsleistung kontiert wird: in Form von Likes, Klicks und Followern. Diese Übertragung des Prinzips eines persönlichen Bankkontos in die Ökonomie der Aufmerksamkeit war der Geistesblitz bei der Erfindung der sozialen Medien. Denn die Menschen nutzen diese Medien erst in zweiter Linie, um sich zu informieren. Was sie süchtig danach macht, ist der Blick auf ihren Kontostand.

Von Amokläufern und Terroristen heißt es, dass sie mit ihren grausamen Taten nach einem Übermaß an Aufmerksamkeit gieren.

Ein Terroranschlag ist das ultimative Mittel, wenn es um den Impact auf das Bewusstsein der Menschen geht. Deswegen sind ja beim IS die anschließenden Bekennerschreiben und überhaupt die PR ebenso wichtig wie die Anschläge selbst. Was dahintersteckt, ist, dass das Ressentiment – also diejenigen schlechtzumachen, die einem die Aufmerksamkeit verweigern – auch für ganze Gesellschaften existiert. Wenn eine Gesellschaft immer nur fremde Kultur, nämlich die Kultur der ehemaligen Kolonialherren, importiert und daher massenhaft Aufmerksamkeit exportiert, selber aber die eigene Kultur kaum exportieren kann und deswegen nur minimale Aufmerksamkeit einnimmt, dann kann sie auch kollektiv einschnappen.

„Durch Schüren von Ressentiments komme ich eben doch an die Aufmerksamkeit, von der ich anders nur träumen kann. Es ist dann ziemlich schwer, von dieser Sucht wieder wegzukommen“

Richten wir den Blick mal auf Deutschland: Es ist ja nicht leicht, mit denen zu reden, die Ressentiments pflegen und, wie etwa Pegida, auch zu hässlichen Mitteln greifen. 

Ja, das ist das Problem. Wenn ich mal in dieser Spirale drin bin, dass ich merke: Durch Schüren von Ressentiments komme ich eben doch an die Aufmerksamkeit, von der ich anders nur träumen kann. Es ist dann ziemlich schwer, von dieser Sucht wieder wegzukommen.

Was empfehlen Sie dann: den Aufmerksamkeitsentzug? 

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Georg Franck (Foto: privat)

Georg Franck hat 1998 die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ verfasst. Eigentlich war Franck Professor für Architektur an der Technischen Universität Wien. Da er mit den Fächern Philosophie, Volkswirtschaft und Architektur selbst sehr heterogene Fachgebiete hat, wurde er dadurch bestraft, dass er sich um sehr viel mehr kümmern musste, sagt er. Etwa auch damit, uns ein Interview zu geben.

(Foto: privat)

Ich empfehle einen Entzug der anonymen medialen Aufmerksamkeit. Aber man sollte diesen Leuten mehr direkte zwischenmenschliche Aufmerksamkeit schenken. Man sollte sich ihre Meinungen anhören und auch einmal nachfragen und durch ihren Schwall der Beschimpfungen und Verwünschungen hindurchtauchen. Und dann muss man ihnen auch Argumente abverlangen. Da ist etwas erforderlich, das der amerikanische Philosoph Donald Davidson die wohltätige (charitable) Interpretation nennt: dass man, wenn man etwas nicht gleich versteht, den Fehler auch erst mal bei sich und nicht immer sofort bei den anderen sucht. 

Wenn man demgegenüber die sogenannten Eliten betrachtet, hat man aber auch nicht das Gefühl, dass deren hohes Aufmerksamkeitsguthaben zu mehr Gelassenheit führt – eher, dass die Gier danach groß bleibt.

Es gibt da heute eine größere Auf- und Abstiegsdynamik: Unsere heutigen Eliten unterscheiden sich von der alten Oberschicht nicht zuletzt dadurch, dass sie es sich nicht mehr leisten, das Medienvolk zu vernachlässigen – denn das Wertvollste, das sie haben, ist ihre Popularität. Wer Aufmerksamkeitsmillionär ist, muss ständig in Sorge sein, dass der Kurswert der eigenen Prominenz abstürzt. Denn wenn die Quote schwindet und die Medien anfangen, weniger Präsentationszeit und -fläche in einen investieren, dann verstärkt sich bereits der Abwärtstrend.

Auch in der Politik wird mehr denn je um Aufmerksamkeit gerungen. Gehen Rückzugsräume verloren, um mit Ruhe gute Entscheidungen zu treffen?

Ja. Aber man sollte von Politikern doch bitte auch erwarten dürfen, dass sie eine ruhige Hand bewahren und die Nerven behalten. Für Spitzenpolitiker gehört es heute zum beruflichen Anforderungsprofil, dieses Bombardement seitens der Medien stoisch auszuhalten und den schäumenden Teil des Schwalls einfach zu ignorieren.

Wird die Gesellschaft zukünftig noch mehr nach den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie funktionieren, oder sehen Sie Alternativen?

Wenn es uns darum geht, eine weniger nervöse Gesellschaft zu werden, dann sind zunächst mal ganz klassische Regeln und Grundsätze der Klugheit und Ethik gefordert, die sich der allgemeinen Aufgeregtheit stellen, ohne die Aufmerksamkeitsökonomie als Ganzes zu denunzieren. Ich würde das unter einem Titel wie moralische Eleganz apostrophieren.

Warum eigentlich ist es uns so wichtig, die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu bekommen?

In der Wissenschaft wird heute ja schlechterdings geleugnet, dass die Menschen so etwas wie eine Seele haben. Für mich ist die Aufmerksamkeitsökonomie ein Weg, um deren Existenz indirekt zu beweisen. Denn man erkennt doch deutlich, dass wir Menschen uns keineswegs gegenseitig nur als biologische Computer behandeln. Vielmehr wollen wir eine Rolle im anderen Bewusstsein spielen. Wir wollen dort drüben, im anderen Seelenleben, mit Respekt, Zuneigung und vielleicht sogar Bewunderung empfangen werden.

Titelbild: Heinrich Holtgreve / OSTKREUZ