Um gleich mal ein bisschen Hoffnung zu wagen: Man könnte es so deuten, dass die Pandemie nicht länger währt als drei Berliner Filmfestspiele. Denn bisher stellt jede Berlinale während der Corona-Pandemie eine Zäsur dar, die man auch über die Filmwelt hinausdenken kann.
Im Februar 2020 war das Festival mit knapp 480.000 Kinobesuchen und Publikum aus 132 Ländern eines der letzten großen Massenevents vor Beginn der Pandemie. 2021 stand die Notlösung einer Streaming-Berlinale symbolisch für die Splitscreen-Realität des langen Winterlockdowns. 2022 hingegen zeigt sich, dass Kulturveranstaltungen mit umsichtigen Maßnahmen wieder gelingen könnten. Wird das Coronavirus pünktlich zur nächsten Berlinale endemisch sein? Das würde ins Bild passen.
Im Film von heute markieren Masken die Gegenwart
Die pandemische Realität, die den diesjährigen Festivalablauf dominiert, ist in den Filmen jedenfalls nur bedingt präsent. Natürlich sind Masken, die unzweifelhaften Markierungen der Gegenwart, in den Dokumentarfilmen zu sehen. Kurios wirken da im Rückblick die Bilder der ersten Corona-Wochen, wo zunächst niemand Maske trägt, aber im Minutentakt alles desinfiziert wird. Etwa in dem österreichischen Beitrag „Für die Vielen“, der vor und nach dem Einbruch der Pandemie gedreht wurde und die Wiener Arbeiterkammer (AK) porträtiert, eine Institution für die Interessen von Arbeiter*innen und Angestellten. Ein faszinierend repräsentativer Blick auf die Arbeitswelt ist das, weil nicht nur die Kernfunktion der AK – persönliche Beratung vor Ort – jäh unterbrochen wird, sondern weil die Arbeitsrechtler*innen dort sofort die fatalen Folgen auf dem gesamten Arbeitsmarkt beobachten: Löhne werden nicht ausgezahlt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Mütter werden durch die Situation benachteiligt.
Welche Spuren aber hinterlässt die Pandemie im Spielfilm? Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben sehr wenige Werke im Kino oder auf den großen Streamingdiensten von den Umbrüchen der vergangenen zwei Jahre erzählt. Das hat Gründe. Einerseits sind manche Produktionen, die heute veröffentlicht werden, noch vor Corona abgedreht worden. Andererseits ist die Pandemie aber auch ein leidiges Thema – und Masken sind nicht unbedingt förderlich für große Leinwandgefühle. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs hat vor knapp 100 Jahren schon geschrieben, dass die Großaufnahme eines Gesichts das ganze Drama enthalte. Wie soll das funktionieren, wenn man nur die Augen der Darsteller*innen sehen kann?
Groteske Lockdown-Fantasien
In dieser Hinsicht zeigen sich auf der Berlinale drei Arten von Filmen. Die meisten Arbeiten, die im Hier und Jetzt spielen, ignorieren das Thema. In anderen Filmen, wie im südkoreanischen Wettbewerbsbeitrag „The Novelist’s Film“, sind Masken bloß beiläufige Requisiten der Gegenwart. Ein paar Werke aber interessieren sich ganz wesentlich für die Absurditäten und Verstörungen der Pandemie-Erfahrung. Sie fragen nach den Auswirkungen für Arbeit und Soziales, Familie und Liebe. Sie betonen, trotz aller Unterschiede zwischen den Ländern, die universellen Emotionen der sozialen Distanz. Und sie tragen der Tatsache Rechnung, dass der Verzicht auf Begegnungen für junge Menschen besonders traumatisch ist. „Ich will etwas in die Luft sprengen und jemanden umbringen!“, schreit die jugendliche Protagonistin des französischen Films „Coma“ einmal allein in ihrem Zimmer.
Der Film von Bertrand Bonello und die argentinische Produktion „The Middle Ages“ (Regie: Alejo Moguillansky, Luciana Acuña) sind vor ähnlichen Hintergründen entstanden. Die staatlich verordneten Lockdowns, die sowohl in Frankreich als auch in Argentinien sehr streng ausgelegt wurden, werden hier als die einschneidende Erfahrung dargestellt. In beiden Fällen fiktionalisieren die Filmschaffenden jeweils die Perspektive der eigenen Kinder: Bonello lässt seine Tochter in „Coma“ von der Schauspielerin Louise Labeque verkörpern und in Tagträume und Influencerwelten abdriften. In „The Middle Ages“ spielt die zehnjährige Cleo, das tatsächliche Kind des Regieduos, selbst die Hauptrolle.
Langeweile, Frust, die ewigen Videokonferenzen: Das alles erscheint in beiden Filmen in einer antirealistischen, grotesk zugespitzten Form. So kann sich Cleo kaum aufs Homeschooling konzentrieren, weil ihre Mutter, eine im Lockdown beschäftigungslose Tänzerin, in Slapstickmanier durch die Wohnung springt. Samuel Becketts „Warten auf Godot“ dient in „The Middle Ages“ als Folie für den ewig gleichen Pandemie-Alltag. Den Klassiker des absurden Theaters liest Cleo gemeinsam mit dem Paketzusteller Moto, dem sie heimlich den Hausstand ihrer Eltern verkauft. Der scheinbar leichtfüßigen Lockdown-Komödie sind große Fragen eingeschrieben: Gefährdet die Pandemie nicht nur die ökonomische Existenz der Künstlerfamilie, sondern auch den Sinn ihrer Arbeit, wenn es für Kunst keine Bühne mehr gibt?
Ganzkörper-Gummiball statt Maske
Leicht surrealistisch entrückt ist die pandemische Lage auch in „Three Tidy Tigers Tied a Tie Tighter“. Aus Schutz vor einer „goldenen“ Virusvariante – sie soll Gedächtnisverlust hervorrufen – laufen manche Leute in einem Ganzkörper-Gummiball durch die Stadt, und Desinfektionsmittel sprüht man sich hier in den Mund. Der Film von Gustavo Vinagre erzählt von der Sehnsucht nach körperlichen Begegnungen aus der Perspektive von drei jungen queeren Menschen, die sich durch São Paulo treiben lassen.
So lässt sich die Hauptfigur Jonata an einem Straßenstand die Augen schminken, damit über der Maske wenigstens eine Gesichtspartie zur Geltung kommt, und schmiegt sich Rücken an Rücken an einen Fremden auf der Straße („Küssen dürfen wir ja nicht“). Aus dem Vergleich mit dem HI-Virus, mit dem Betroffene, wie in der Geschichte Jonata, heute weitgehend ohne Einschränkungen leben können, schöpft der Film auch eine Vision für das Ende der aktuellen Corona-Pandemie. „Nicht du hast das Virus vergessen“, sagt eine Ärztin am Schluss des Films zu Jonata. „Das Virus hat dich vergessen.“
Titelbild: Three Tidy Tigers / Cris Lyra