„Was ist mit dir, Schwuchtel?“, rief der große, kräftige Typ mit den schwarzen Haaren. Er stand mit drei oder vier anderen Jungs vor meiner Schule. Genau diese Situation versuchte ich immer zu vermeiden und ließ deshalb jeden Tag ungefähr eine Viertelstunde nach Schul-ende verstreichen, bis ich mich auf den Weg nach Hause machte. An diesem Tag warteten sie aber auf mich. Sie wussten, dass ich irgendwann nach Hause gehen würde. Einer von ihnen kam auf mich zu. Er schubste mich. Alle lachten. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Er war zwei Köpfe größer als ich, aber auch sonst hätte ich nicht den Mut gehabt, mich zu wehren. Er packte mich an den Schultern, holte mit dem Kopf nach hinten aus und schlug ihn mit voller Wucht gegen meinen.
Aber mal von vorn.
Als Kind habe ich gern mit Puppen gespielt, wollte Tierarzt werden und gründete mit einer Freundin den „Tier-und-Pflanz-Club“. Als mich meine Eltern in einen Fußballverein steckten, pflückte ich während der Spielzeit lieber Blumen, statt den Ball meinen Mitspielern zuzuspielen. Später war ich der einzige Junge im Turnverein, großer Fan von den No Angels und liebte es, Theater zu spielen. Auch wenn es mir damals noch nicht bewusst war: Für viele war ich wohl ein wandelndes schwules Klischee.
„Das Schlimmste war der Sportunterricht. Ich bewege mich wie ein Mädchen, sagten sie und machten sich in der Umkleide über mich lustig“
Da ich nicht dem Rollenbild eines männlichen Teenagers entsprach, konnte ich in der Pubertät auch den Erwartungen der Jungs aus meiner Klasse nicht gerecht werden. Und so wurde ich zum ersten Mal mit meiner sexuellen Orientierung konfrontiert. Oder besser gesagt: der Außenwahrnehmung davon. Anfangs war die Ausgrenzung noch subtil, doch das änderte sich, als ich in der siebten Klasse vom Gymnasium auf eine Realschule wechselte.
Zunächst freute ich mich auf den Schulwechsel. Doch bereits als ich den Klassenraum betrat, hatte ich das Gefühl, dass mich viele Schülerinnen und Schüler misstrauisch musterten. Sie sahen in mir nicht nur den Neuen und denjenigen, der zu schlecht fürs Gymnasium war, sondern auch einen Sonderling.
Um in das Schulgebäude zu gelangen, musste man den Pausenhof überqueren, auf dem alle auf das Läuten der Schulglocke warteten. Ich hasste diesen Moment. Denn jedes Mal drehten sich Jungs oder Mädchen um und machten sich über meinen Gang oder meine Stimme lustig. Manche grölten mir „Schwuchtel“ hinterher und lachten darüber. Die großen Pausen verbrachte ich allein im Treppenhaus. Ich war ein Außenseiter und ein leichtes Opfer noch dazu. Wehren konnte ich mich nicht, und ich hatte niemanden, der mich verteidigte. Ich fühlte mich verloren.
Das Schlimmste war der wöchentliche Sportunterricht, der nach Geschlechtern getrennt war. Es waren zwar nur zwei Stunden, doch vor diesen fürchtete ich mich die gesamte Woche. Ich schämte mich. Niemand wollte mich im Team haben. Ich würde mich wie ein Mädchen bewegen, sagten meine Mitschüler und machten sich in der Umkleide über mich lustig. Woche um Woche dachte ich über eine neue Ausrede nach, um nicht zum Sportunterricht gehen zu müssen. Unzählige Male erklärte ich meinem Lehrer, wieso ich schon wieder verschlafen oder meine Sportkleidung vergessen hatte.
Am liebsten wäre ich komplett zu Hause geblieben oder hätte zumindest auf jede einzelne Minute außerhalb des Unterrichts verzichtet. Wenn ich zwischen den Stunden die Tafel wischen musste, hörte ich, wie Mitschüler hinter meinem Rücken flüsterten und über mich lachten. Oder bildete ich mir das irgendwann nur noch ein? Ich wurde paranoid. Jeder Blick schien mir zu gelten, alle waren gegen mich.
Meinen Eltern erzählte ich fast nie von den Schikanen. Ich berichtete aber von dem Jungen, der seinen Kopf gegen meinen schlug. Als mich mein Vater eines Morgens zur Schule brachte und ich ihm den Jungen zeigte, hielt er neben ihm, stieg aus dem Auto und packte ihn am Kragen. „Wenn du meinen Sohn nicht in Ruhe lässt, bekommst du richtig Ärger. Hast du das verstanden?“, drohte er ihm. „Okay“, stammelte der Junge. Danach ließ er mich in Ruhe.
Es dauerte nicht lange, bis ich anfing, den Status des Außenseiters für mich zu nutzen. Ich grenzte mich mit meiner Kleidung absichtlich von den anderen ab und färbte meine Haare. Ich errichtete eine Mauer um mich, an der die Witze abprallten, und war stolz darauf, nicht in der Masse unterzugehen. So wie die anderen wollte ich eh nicht sein. Ich wollte nichts mit dem, was sie mir an den Kopf warfen, zu tun haben. Die anderen verstanden mich einfach nicht, dachte ich – mich in meinem Anderssein. Und eins stand für mich fest: Schwul war ich nicht. Schwule Männer wurden berechtigterweise aus der Gesellschaft ausgeschlossen, im Gegensatz zu mir, dachte ich. Wieso sonst leitete meine Lehrerin im Sexualkundeunterricht das Thema Analsex mit den Worten „Das ist ziemlich unangenehm, aber ich muss das mit euch besprechen“ ein, worüber dann alle lachten. Ich war nicht schwul, die anderen wollten mich nur beleidigen.
„Ich hasste das, was ich selbst war“
Bis die Fassade bröckelte: Es fiel mir immer schwerer, meine sexuelle Orientierung zu verleugnen. Schaute ich mir Pornos an, erregte mich nicht die Frau, sondern der Penis des Darstellers. Aber wieso auch nicht, dachte ich. Schließlich stelle ich mir vor, dieser Mann zu sein, der mit einer Frau schläft. So jedenfalls mein Versuch, mich von meiner vermeintlichen Heterosexualität zu überzeugen. Internalisierte Homofeindlichkeit nennt sich das, wie ich heute weiß. Das Mobbing trug sicherlich einen Teil dazu bei. Ich hasste das, was ich selbst war.
Heute weiß ich, dass das Mobbing zur Folge hatte, dass ich einen großen Teil meiner Persönlichkeit lange Zeit komplett unterdrückte. Hätte ich mich früher mit meinen Gefühlen beschäftigt, wenn mich niemand fertiggemacht hätte? Gut möglich. Die Beleidigungen ebbten jedenfalls irgendwann ab, einen genauen Zeitpunkt kann ich nicht mehr ausmachen. Erst Jahre später, als ich die Gedanken über meine sexuelle Orientierung zum ersten Mal zuließ, wurde alles besser.
Wenn ich heute an meine Schulzeit zurückdenke, sind manche Erinnerungen verblasst. Aber ich entsinne mich gut einzelner Momente, zum Beispiel wie ich mich nach der Schule oft weinend aufs Bett schmiss. Ich weiß aber oft nicht mehr genau, wie ich mich fühlte, was ich dachte und was mich beschäftigte. Ich habe einen Großteil meiner Jugend verdrängt, um mit meiner täglichen Realität klarzukommen.
Fotos: Ryan James Caruthers