„Sie ist verreckt.“ Amelie sagt das geradeheraus, ohne zu zögern. Ganz allein habe sie dagelegen, schwer atmend, in einem ungemütlichen Raum im Krankenhaus, der Kopf kahl rasiert, die eine Seite voller Narben. Es ist das letzte Bild, das Amelie von ihrer Oma sah, eins, das ihr stark in Erinnerung blieb. Zum ersten Mal in ihrem Leben stellte sich Amelie Meier die Frage, wie es möglich ist, in Würde zu gehen. Da war sie 21. Heute ist sie 24 und begleitet Menschen beim Sterben.
Frau D. sei nicht sonderlich begeistert gewesen, als Amelie sie zum ersten Mal in der Pflegeeinrichtung besuchte. Die 83-Jährige war an Leberkrebs erkrankt, ihre Tochter hatte die Sterbebegleitung organisiert. Sie würde aber gar nicht sterben, stellte Frau D. direkt zu Beginn klar. „Trotzdem wurde sie recht schnell sehr freundlich zu mir“, sagt Amelie. Sie hätten dann auch nicht weiter „über den Tod und so“ gesprochen. Stattdessen habe sie Frau D. auf ihrem Smartphone gezeigt, wie das Wetter gerade an verschiedenen Orten ist. „Wir haben zusammen Kuchen gegessen und Kaffee getrunken – Frau D. aus ihrer Schnabeltasse, ich aus einer normalen. Ich habe ihr sogar ein zweites Mal Kaffee eingeschenkt!“ Amelie betont das, weil es wichtig ist. „Wenn es mit dem Essen und Trinken weniger wird, ist das ein sicheres Zeichen, dass es losgeht.“ Damit meint Amelie, dass der Tod näher kommt. Sie hat das im „Befähigungskurs“ gelernt, den alle absolvieren müssen, die ehrenamtlich andere Menschen beim Sterben begleiten.
Amelie hat diesen Kurs im letzten Frühjahr besucht. An drei Wochenenden und elf Abenden ging es um Trauerphasen, Demenz, Nahtoderfahrungen, Spiritualität und Körper, die verfallen. Und um die Ehrenamtlichen selbst. „Hospizarbeit ist vor allem auch Arbeit an sich selbst“, erklärt Elvira Gahr vom Hospizkreis Minden. Zu ihren Aufgaben gehört es, für Sterbende die jeweils passende Begleitung zu finden. Damit sie das kann, muss sie die Ehrenamtlichen gut kennen – und diese sich selbst. „Sie müssen wissen, wo ihre eigenen Ängste und Grenzen liegen, bevor sie sich mit den Ängsten und Grenzen anderer Menschen auseinandersetzen können.“ Selbsterfahrung und -erkenntnis sind zentral. Amelie weiß das. Ihr ist klar, was sie will und kann. „Junge Menschen zu betreuen würde mir sehr schwerfallen. Mit älteren Menschen, die an Krebs erkrankt sind, habe ich dagegen gar kein Problem.“
Amelie hat Soziale Arbeit studiert und danach für zwei Jahre im Sozialdienst auf einer onkologischen Station gearbeitet. „Ich hatte auf der Station mit Menschen zu tun, denen der Tod ins Gesicht geschrieben stand. Und das meine ich wörtlich.“ Ein Mann habe eine Krebserkrankung im Mund- und Rachen- bereich gehabt, sie hatten ihm ein Stück seiner Zunge wegge- schnitten. „Ich fand das schon schlimm“, sagt sie, um dann ganz schnell hinzuzufügen: „Aber das ist nun mal eine Ebene des Verfalls vom menschlichen Körper.“ Dass Menschen aufgrund ihrer Erkrankung äußerlich entstellt sind, ist aber eher die Ausnahme, weiß Elvira Gahr aus Erfahrung. Sie hat es noch nie erlebt, dass jemand aus Ekel die Begleitung abgebrochen hat. „Die meisten Ehrenamtlichen haben eine gute Selbstdisziplin und sehen die Umstände als normal an. Für sie steht der Mensch im Vordergrund und nicht irgendein Tumor.“
Wenn man Amelie fragt, wie Frau D. am Lebensende ausgesehen hat, muss sie länger überlegen. „Sie hatte einen gelblichen Hautton, aber sie war kein dünnes Skelett. Eher eine kernige Person.“ Amelie lacht: „So wie ich.“ Dass die alte Dame im Sterben lag, konnte Amelie aber dennoch am Körper der 83-Jährigen ablesen, mit jedem Besuch ein wenig mehr. Als Amelie das zweite Mal kam, aßen sie keinen Kuchen mehr zusammen, und auch gesprochen wurde nicht mehr viel. Die meiste Zeit während der anderthalb Stunden, die Amelie bei ihr war, schlief Frau D. Ihre Bewegungen und Bedürfnisse wurden immer weniger. „Erst konnte sie sich noch bewegen und selbst im Bett aufsetzen.“ Irgendwann war damit Schluss. Schließlich kam das Pflegepersonal, um sie mal auf die eine Seite, mal auf die andere zu drehen. Am Ende habe sie gar nicht mehr getrunken und gesprochen, nur manchmal noch gewimmert. „Wenn du beobachtest, dass der Körper eigentlich nichts mehr macht außer zu atmen, ist das viel härter, als die äußeren Merkmale des Verfalls mit anzusehen.“
Wie geht man mit einem Menschen, der weder reden noch sich bewegen kann? Das ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich die Ehrenamtlichen während des Befähigungskurses auseinandersetzen. Sie lernen, bewusst miteinander zu schweigen, mitunter einen halben Tag lang. „Schweigen ist nicht immer eine Schwelle, sondern kann auch eine gefühlte Verbindung, eine Brücke zu der sterbenden Person sein“, erklärt Elvira Gahr. Schweigen kann helfen, tatsächlich mit all seinen Gedanken bei dem Menschen zu sein, der vor einem im Bett liegt. Bei einem ihrer letzten Besuche hat Amelie in der ersten halben Stunde nichts anderes gemacht, als zu beobachten, ob und wie sich die Bettdecke von Frau D. hebt und wieder senkt. „Man schwingt miteinander“, sagt Frau Gahr dazu. Durch das Konzentrieren auf die Atmung des anderen soll eine Verbindung zwischen den beiden Menschen entstehen, sie werden zu einer Einheit.
„Man muss lernen, die Ruhe auszuhalten, und sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass man nicht überflüssig ist. Auch wenn das Gegenüber nichts mehr kann“, sagt Amelie. Irgendwann habe sie die Hand von Frau D. genommen – „ich habe sie einfach nur gehalten und war da.“ Streicheln oder andere Berührungen sind nicht ihr Ding. Das ist ihr im Befähigungskurs bewusst geworden. Sie bekamen zwei Zeichnungen von Körpern und sollten sich vorstellen, dass sie selbst im Sterben liegen. Wo würden sie gern berührt werden? „Bei mir gab es vor allem Tabuzonen“, erzählt Amelie. Lediglich ihre Hände und Unterarme waren „öffentliche Zonen“. Dass sie keiner Person durchs Gesicht streichelt, die sie betreut, hat für Amelie nichts mit Scheu oder Ekel vor einem anderen Menschen zu tun. Sie würde es selbst nicht wollen, also macht sie es auch nicht bei anderen. Ihr Auftrag sei ja auch nicht reden oder streicheln. „Zeit – das ist der eigentliche Auftrag.“ Und das ist für Amelie das Wundervolle an ihrer ehrenamtlichen Arbeit. „Dieses Gefühl, mit einem so einfachen Mittel etwas so Großartiges zu tun, ist unbezahlbar.“
Amelie und Frau D. hatten nur fünf Besuche miteinander. „Ich habe bei Frau D. zum ersten Mal bewusst erlebt, wie ein Körper geht.“ Die Stunden mit Frau D. seien mit die lehrreichsten in ihrem bisherigen Leben gewesen. Ihr Blick auf den Tod sei seitdem ein anderer. „Ich habe ein Verständnis dafür bekommen, dass der Tod zum Leben dazugehört. Er verliert von seinem Schrecken, wenn du dich einmal ganz bewusst mit ihm auseinandergesetzt hast.“ Dass ein Körper nicht immer schön aussieht und irgendwann nicht mehr richtig funktioniert, „wird zur Normalität. Du realisierst, dass es gar nicht so schlimm ist, wie du es dir vielleicht immer vorgestellt hast“. Für Amelie steht fest, dass sie weiterhin Menschen betreuen möchte. „Ich weiß, es klingt komisch, aber: Ich freue mich darauf, den nächsten Menschen beim Sterben zu begleiten.“