Einmal im Jahr veranstalten die Venezolaner einen Wettbewerb, für den sie eine eigene Hymne komponiert haben und den sie „la noche más linda“ – die schönste Nacht – nennen. Im Norden von Caracas, im Studio 5 des TV-Kanals Venevisión, hat sie eben begonnen. Es ist der 13. Dezember 2018, ein Donnerstag um 19 Uhr: 150 Gäste in Galakleidern und Anzügen blicken auf die Bühne.
Manche Zuschauer summen mit, als 24 junge Frauen im gleichen glitzernden Hosenanzug die Bühne betreten und die im nationalen Gedächtnis verankerten Zeilen singen, scheinbar wie aus einem Mund. Die Klimaanlage ist eiskalt eingestellt, der Geruch des Trockeneisnebels hat sich mit dem von Parfüms vermischt. 48 lange Beine auf dünnen Absätzen bewegen sich im Gleichschritt der Choreografie. Der Titel, um den sie kämpfen: Miss Venezuela.
2018 zählte Venezuela mehr als 23.000 Morde und die höchste Inflation weltweit: 930.000 Prozent. Die Wirtschaft ist am Boden, die Staatskassen sind leer, Millionen hungern. In all der Ungewissheit über die Zukunft des Landes ist nur eine Konstante geblieben: die Schönheit der Frauen. Sie scheint stabiler als jede Währung zu sein. Kein anderes Land hat so viele internationale Schönheitstitel gewonnen, in 66 Jahren waren es: siebenmal Miss Universum, sechsmal Miss World, achtmal Miss International.
Viele in Venezuela machen unfreiwillig die „Maduro-Diät“: 2017 hat durch die Krise jede*r im Schnitt elf Kilo verloren
Von den 1.300 registrierten Kandidatinnen sind 24 bis in die letzte Runde vorgedrungen. Unter ihnen Isabella Rodríguez, Studentin der Industriesicherheit. Geboren und aufgewachsen in Petare, dem größten Slum Venezuelas und einer der gefährlichsten Gegenden von Caracas. Isabella, 25 Jahre, 178 Zentimeter, ist die Älteste und Größte unter den Kandidatinnen. Grüne Augen. Dünne, lange Beine. Ihre Haut ist dunkler als die der anderen, das krause Haar geglättet. Unter Experten des Wettbewerbs gilt sie als Außenseiterin.
Im Land der Knappheit verbindet sie derselbe Traum mit all den anderen Mädchen. Denn der Titel der schönsten Frau ist nicht nur ein Krönchen. Er ist Sprungbrett und Türöffner in die Welt der Medien, der Mode und der Politik. Schönheitswettbewerbe genießen in Venezuela ein hohes Prestige, sind Nationalstolz.
Die Show moderieren eine Frau Anfang 30, selbst Ex-Miss-Kandidatin, und zwei Männer mit glatten Gesichtern und Zahnpastalächeln. Sie nennen die 24 Misses in dieser Nacht meist nicht bei ihrem Namen, sondern bei dem des Bundesstaates, den sie repräsentieren. Isabella ist Miss Portuguesa. Zwei Monate vor der Show, bei der offiziellen Vorstellung der Kandidatinnen, ist die Zuordnung per Los entschieden worden
Gelber Rüschenrock mit Beinausschnitt, darunter ein mit Blumen bestickter Badeanzug und große runde Ohrringe. Das zweite Outfit der Misses. Während sie sich zu karibischer Merengue-Musik drehen und eine ihren Rock verliert, singt ein Mann: „Spritz mir deine Liebe wie Insulin.“ Kurz darauf läuft jede einzeln über den Laufsteg, in Badeanzug und High Heels. Langsam fährt die Kamera an ihrem Körper hoch, die Maße werden groß eingeblendet. Isabella: 82 – 62 – 90.
Isabella genießt die Blicke, kontrolliert besser als andere Gestik und Haltung, spricht souverän und routiniert. Monatelang ist sie mit ihren 23 Mitstreiterinnen in der Miss-Villa, der „Fabrik der Königinnen“, in „Schönheitspflege, Sport und sozialer Verantwortung“ unterrichtet worden.
In Venezuela fehlt es an Nahrung, Medizin und Jobs. Unserem Autor ist ewig klar: Er muss da raus. Leichter gesagt als getan
Spätabends fuhr sie in ihr Viertel zurück. Petare ist ein Slum mit geschätzt 400.000 Einwohnern im Osten von Caracas, das Elend Venezuelas unterm Brennglas. Dünne Kinderbeine in zu großen Hosen. 13-jährige Mädchen mit runden Bäuchen, weil ihnen niemand etwas von Verhütung erzählt hat. Gealterte, ausgezehrte Körper. An einem Ort wie Petare kommt schon die Teilnahme am Schönheitswettbewerb einem Märchen gleich.
Von diesem Märchen geträumt hat Isabellas Mutter, Mary Isabel Guzman de Rodríguez, 51. Mit ihrem Mann Kike hat sie das schönste Haus in José Félix Riva, Zona 7, mit Blick über Kabelgewusel und auf Hügel gebaute Backsteinhütten. Ihr Leben hat sie der Familie, den drei Kindern gewidmet. Jahrelang sagte sie sich: „Eines Tages wird meine Tochter Miss Venezuela sein.“
Die Trophäen, die Isabella seit ihrem 17. Lebensjahr sammelt, stellt Mary auf einem Tischchen im Wohnzimmer aus, damit sie niemand übersieht. Isabella war Miss ihres Viertels, eines Karnevalsvereins, eines Kaufhauses. Der schma-le Gang zwischen Küche und Wohnzimmer war ihr Laufsteg. „Ich habe Tisch und Stühle beiseitegeräumt und Platz gemacht für Isabella.“ Sollte sie nun den wichtigsten aller Schönheitswettbewerbe gewinnen, wäre das auch Marys Sieg.
Nicht weit entfernt von ihrem Zuhause verharren andere für günstige Kleidung aus zweiter Hand und selbst gemachte Reinigungsmittel an ambulanten Verkaufsständen stundenlang in der Sonne. Das ganze Land wirkt wie ein einziger großer Wartesaal. Meist sind es Frauen, die nach Lebensmitteln oder Medikamenten suchen für sich und ihre Familien. Sie sind am meisten von der Krise betroffen, leiden besonders unter Arbeitslosigkeit und Armut, in der fast 90 Prozent der Venezolaner leben.
Die Miss-Wahl kennt bessere Zeiten: Früher traten internationale Stars auf, heute nationale Folkloremusiker. Die Einschaltquoten bleiben geheim.
Auch die Miss-Show hat schon bessere Zeiten gesehen. 1952 fand sie zum ersten Mal statt, schnell wurde sie zur nationalen Obsession. Ein Stadion mit bis zu 20.000 Besuchern, das war früher der Austragungsort. Mit Einschaltquoten von über 90 Prozent, heute hält man die Zuschauerzahlen lieber geheim. Früher traten internationale Stars auf, heute nationale Folkloremusiker.
Wie ein Mantra wiederholen die Moderatoren die Bedeutung der Nacht, sagen Sätze wie: „Miss Venezuela ist eine der schönsten Traditionen, die uns das Leben erfrischen.“ Außerhalb der Bühne hat die Realität den Sender längst eingeholt. Auf dem WC fehlt das Klopapier, die Tür lässt sich nicht schließen. Aus dem Hahn tropft kein Wasser, minutenlang gibt es an diesem Abend in ganz Caracas kein Licht.
Miss Venezuela wird finanziert durch die Cisneros-Gruppe, Venezuelas größter privater Medienkonzern, zu dem der Sender Venevisión gehört. Dieser organisiert und vermarktet die Miss-Wettbewerbe. Venevisión ist einer der ältesten TV-Kanäle des Landes: 2013 zählte er noch 4.000 Angestellte, fünf Jahre später weniger als 800. Eine Tendenz, die überall zu beobachten ist. 2018 sank das Bruttoinlandsprodukt in Venezuela nach IWF-Schätzungen um rund 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Im Studio 5 sind die Plastikstühle dicht aneinandergereiht, Sponsoren sitzen neben Presseleuten. Statt Sekt und Häppchen gibt es für sie einen halben Liter Wasser in der Plastikflasche. Isabellas Mutter Mary hat ihr rosarotes Kostüm in einem besseren Viertel von Caracas gekauft. Wie die meisten Venezolaner hat sie durch die Krise abgenommen. Elf Kilo hat jeder Bürger im Schnitt 2017 verloren. Das ergab eine Studie venezolanischer Universitäten. „Maduro-Diät“ nennen es die Venezolaner ironisch, nach dem nach wie vor dicken Diktator.
Fast alle, die mal Miss Venezuela waren, leben heute woanders. Sie nutzen den Titel, um rauszukommen.
Schön zu sein, das war in Venezuela lange leistbar für alle, auch für die Frauen in den Armenvierteln. Heute erkennt man den Niedergang des Landes nicht nur an den leeren Restaurants und Supermärkten, sondern auch an unmanikürten Fingernägeln und verfilzten Haaren. Vielen fehlt selbst das Geld für Shampoo. Die Standards für Miss-Kandidatinnen, etwa die Mindestgröße von 1,70 Meter, werden sich in Zukunft ändern müssen. Durch den Hunger und die Fehlernährung der Schwangeren kommen viele venezolanische Babys viel zu klein zur Welt.
In den letzten Jahren haben knapp vier Millionen Venezolaner das Land verlassen. Die aktuelle Miss Chile ist in Venezuela geboren. Fast alle, die einmal zur schönsten Frau gekürt wurden, leben heute im Ausland. Sie nutzten den Titel Miss Venezuela, um Venezuela zu verlassen.
Isabella, deren zwei Geschwister nach Peru ausgewandert sind, möchte in Venezuela bleiben, „weil ich Optimistin bin“. Doch ihre Kinder, sagt sie, sollen nicht in Petare aufwachsen. „Es ist nicht mehr das Viertel von früher.“
Als die 24 Kandidatinnen auf zehn Halbfinalistinnen und wenig später auf fünf reduziert werden, ist Isabella immer noch dabei. In verschiedenfarbigen Abendkleidern stehen sie auf der Bühne. Der Moderator bittet sie einzeln nach vorn: „Wenn du heute Miss Venezuela wirst, verwandelst du dich automatisch in ein Vorbild für viele. Wie würdest du die Macht deiner Stimme nutzen, um das Leben anderer zu verbessern?“
Der Name Venezuela – „Klein-Venedig“ – geht angeblich auf den italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci zurück, der auf einer Expedition 1499 die Pfahlbauten im Maracaibo-See entdeckte, die ihn an die Lagunenstadt erinnerten. Venezuela hat rund 30 Millionen Einwohner. Mehr als die Hälfte des Landes sind Naturschutzgebiete.
Isabella sagt: „Ich denke, diese Macht habe ich bereits, wenn man bedenkt, woher ich komme, aus José Félix Rivas, Zona 7. Dort bin ich Vorbild für viele junge Mädchen.“ Es gibt in diesem Jahr auch andere arme Miss-Kandidatinnen, aber sie vermeiden es, über ihre Herkunft zu reden. Isabella sagt voll Stolz: „Von Petare in die Welt.“ Es ist der Satz des Abends.
Übrig sind nur noch drei Kandidatinnen. Miss Hauptstadt, Arantxa Barazarte, eine blonde 23-Jährige. Miss Vargas, Juliette Lemoine, 20, wohlhabende Psychologiestudentin und für viele Favoritin. Und Miss Portuguesa, Isabella Rodríguez. Die drei halten einander an den Händen.
Die Nachricht liest der Moderator von einem Zettel ab. „Miss Venezuela ist …“ Trommelwirbel. Licht aus. Scheinwerfer an. „Miss Portuguesaaa.“ Isabella ist die Siegerin. Sie kriegt die Schleife um den Hals gelegt und die Krone aufgesetzt. Und mit der Krone kommen die Tränen. „Jetzt bist du Venezuela“, sagt der Moderator zu ihr.