fluter: In vielen Ländern Europas gewinnen rechte Parteien Stimmen, auch in Deutschland. Mit welchen Erzählungen schaffen es solche Parteien, Menschen von sich zu überzeugen?
Pia Lamberty: Betrachten wir die Welt, wie sie ist – voller Krisen. Da ist zum Beispiel die Klimakrise, die viele Menschen verängstigt und verunsichert. Die Reaktion vieler rechter Parteien: Sie leugnen die Gefahr und entlasten so die Menschen.
Klassische rechte Erzählungen gehen also von Krisen aus?
Zum Großteil. Dazu kommen rassistische und antisemitische Narrative.
Woran erkennt man derartige rassistische oder rechtsextreme Erzählungen?
Unter anderem daran, dass Personen oder Gruppen zum Feind erklärt werden und ihnen die Schuld an Problemen gegeben wird. Auch bei stark vereinfachten Argumenten und solchen, die mit Emotionen spielen – zum Beispiel: „Unsereins muss sein Leben lang hart arbeiten, aber Geflüchtete fahren auf Staatskosten alle Mercedes-Benz“ –, würde ich hellhörig werden. Und überprüfen, woher Informationen kommen und was sie bezwecken wollen. Auch wenn das nicht immer einfach ist, vor allem im Kontext der sozialen Medien.
„Die gute Nachricht ist: Wenn ein Vertrauensverhältnis besteht, hat man bessere Chancen, Menschen zu erreichen“
Auch Gespräche mit Menschen im nahen Umfeld, die mit rechten Parolen und Erzählungen sympathisieren, werden schnell emotional – und enden oft in hitzigen Diskussionen, etwa beim Weihnachtsfest im Kreis der Familie. Sollte man sie überhaupt noch führen?
Die gute Nachricht ist: Wenn ein Vertrauensverhältnis besteht, hat man bessere Chancen, Menschen zu erreichen. Die schlechte Nachricht ist: Je ideologischer mein Gegenüber ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ich ihn oder sie mit Sachargumenten erreichen kann. Der erste Schritt wäre deshalb, sich zu fragen: Wie geschlossen ist das Weltbild meines Gegenübers? Man erkennt das daran, ob die andere Person Argumente gar nicht mehr hören will und andere Meinungen als feindlich abstempelt. Wenn man zum Beispiel aufzeigt, was in einem Wahlprogramm steht, und dann als Antwort bekommt „Du wiederholst ja nur die Lügenpresse“, wird man mit Fakten nicht mehr weiterkommen. In diesem Zusammenhang würde ich mir auch überlegen, was mit der Auseinandersetzung überhaupt erreicht werden soll. Möchte ich zum Beispiel, dass die Person gewisse Dinge mir gegenüber nicht mehr äußert? Oder dass sie ihre Wahlentscheidung überdenkt?
Was könnte man denn rechtsextremen Argumenten entgegensetzen?
Man kann sich zum Beispiel darauf beziehen, dass eine Partei wie die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall geführt wird und dass einzelne Landesverbände und Teile der „Jungen Alternative“ bereits als gesichert rechtsextrem gelten. Ein gutes Argument ist auch, aufzuzeigen, wo die AfD sich demokratiefeindlich verhält. Es gab bereits Fälle, in denen AfDler durch eine hohe Gewaltbereitschaft aufgefallen sind, der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt spricht von einer besorgniserregenden Häufung. Beim Parteitag der AfD Thüringen sollten zudem kritisch berichtende Journalisten ausgeschlossen werden. In der Wissenschaft sind das zwei Indizien für autoritäre Politik. Es gibt aber auch ganz handfeste wirtschaftliche Argumente: Viele Arbeitsstellen können nicht mehr besetzt werden, wir sind deswegen auf ausländische Fachkräfte angewiesen. Die wiederum suchen sich Länder aus, die ihnen gute Bedingungen bieten. Mit steigendem Rassismus wird Deutschland weniger attraktiv, und das hat direkten Einfluss auf den eigenen Wohlstand.
Und was, wenn sachliche Argumente nicht mehr funktionieren?
Dann würde ich eine persönliche Ebene wählen. Erklären, was die Politik für einen selbst und das eigene Umfeld bedeuten könnte. Zum Beispiel: „Mir macht es Angst, dass du eine Partei unterstützt, wegen der Freunde von mir abgeschoben werden könnten.“ Es ist ein langer und schwieriger Prozess, weil es nicht das eine Argument gibt.
„Bei unklaren Aussagen kann es sich lohnen, genauer nachzufragen. Damit erkauft man sich Zeit zum Reagieren und versteht die Beweggründe des Anderen besser“
Wäre ein Weg nicht auch, seinem Gegenüber aufzuzeigen, dass er oder sie gerade ausschließlich mit Emotionen argumentiert?
Vorsicht: Hier passiert es schnell, dass man Menschen das Gefühl gibt, man argumentiere von oben herab. Außerdem kommt man faktisch schnell an die eigenen Grenzen. Wenn es zum Beispiel um die Unterbringung von Geflüchteten geht und der Onkel sagt: „Bei uns in Castrop-Rauxel ist das so und so“, dann kann man oft nicht kontern, weil man nicht weiß, wie genau es in Castrop-Rauxel ist. Ich würde mich auch hier lieber auf die persönliche Ebene konzentrieren. Dem Onkel erklären, warum einem selbst Angst macht, was er da sagt. Menschen sind im besten Fall bereit zuzuhören, wenn sie erkennen, dass das Gegenüber ehrlich in Sorge ist.
Wie vermeidet man, dass einem selbst die Emotionen durchgehen, zum Beispiel bei rassistischen Äußerungen?
Bei einer unklaren Aussage lohnt es sich manchmal, genauer nachzufragen, um herauszufinden, ob die Person das wirklich so meint, wie man es selbst verstanden hat. Damit erkauft man sich selbst Zeit zum Reagieren und versteht andererseits die Beweggründe des Gegenübers besser. Aber: Überschreitet jemand die Grenze, bitte unbedingt widersprechen. Also wenn Menschen beispielsweise „die Ausländer“ für die schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich machen oder von einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung sprechen.
Wäre es nicht manchmal einfacher, den Mund zu halten und sich den Stress und Streit zu sparen?
Viele Menschen betrachten fehlenden Widerspruch als Bestätigung. Wenn man antisemitischen, rassistischen und sexistischen Aussagen nicht widerspricht, signalisiert man, dass es in Ordnung ist, sie zu tätigen. Damit trägt man zu ihrer Normalisierung bei und dass sich soziale Normen verschieben. Es ist wichtig, für eine Gesellschaft einzustehen, in der Menschenverachtung keinen Platz hat.
Ist eine solche Gesellschaft in Gefahr?
Seit dem Anschlag der antisemitischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober erleben wir ein Ausmaß an Propaganda, das mir Angst macht. Die antisemitische Pogromstimmung weltweit ist erschreckend. Gleichzeitig gibt es in Deutschland einen besorgniserregenden Anstieg an Rassismus.
„Viele betrachten fehlenden Widerspruch als Bestätigung. Wenn man rassistischen Aussagen nicht widerspricht, signalisiert man, dass es in Ordnung ist, sie zu tätigen“
Wie nutzen eigentlich Rechte die aktuelle Eskalation in Nahost für sich?
Bei Rechtsextremen sieht man eine Spaltung, was den Nahostkonflikt angeht. Bei manchen ist der Antisemitismus stärker ausgeprägt, die positionieren sich gegen Israel und propalästinensisch. Wir sehen das beispielsweise gerade im Kontext von propalästinensischen Protesten, an denen Rechtsextreme oder Verschwörungsideologen teilnehmen. Andere sind stärker rassistisch und antimuslimisch, die äußern sich eher positiv über Israel. In beiden Fällen geht es aber nicht um die Menschen, sondern darum, den Konflikt für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
Wie kann man sich dagegen wappnen?
Ein paar grundlegende Dinge würde ich empfehlen. Erstens: sich der eigenen Unwissenheit bewusst werden. Dieser Konflikt ist durch seine jahrzehntelange Historie schwer zu durchblicken. Auch betrifft er nicht nur Israel und Palästina, er zieht weite geopolitische Kreise. Zweitens: Quellen hinterfragen. Wer sendet welche Information und zu welchem Zweck? Wie gehen Menschen, denen ich folge, mit Fakten um – und mit Falschinformationen, von denen sie merken, dass sie sie verbreitet haben? Und drittens: Reflektiere deinen eigenen Antisemitismus und Rassismus – und verstehe, dass sie verschiedene Mechanismen haben.
Was macht diese verschiedenen Mechanismen aus?
Rassismus funktioniert meistens über eine Abwertung nach unten. Menschen werden als niederer dargestellt, oft werden sie mit Tieren verglichen, und ihnen wird die Intellektualität abgesprochen. Jüdinnen und Juden hingegen werden einerseits abgewertet und andererseits als übermächtige Gruppe dargestellt. Diese Gleichzeitigkeit ist der Grund für die vielen Verschwörungserzählungen, bei denen Jüdinnen und Juden oft nur indirekt benannt werden. Mit Israel funktioniert es genauso. Auf der einen Seite spricht man dem jüdischen Staat das Existenzrecht ab, auf der anderen Seite wird ihm viel Macht zugesprochen. Eines allerdings haben Rassismus und Antisemitismus gemeinsam …
… was wäre das?
Sie sind beide extrem gefährlich. Denn sie werden genutzt, um Gewalt, Mord und Unterdrückung zu legitimieren.
Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und forscht und berät zu Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Sie leitet zudem das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), eine gemeinnützige Organisation, die Aktivitäten in diesen Bereichen überwacht und analysiert. Portrait: picture alliance / Geisler-Fotopress
Illustration: Renke Brandt