Wenn Olga Selin Hünler an die Reaktion des türkischen Präsidenten zurückdenkt, ist sie immer noch fassungslos. „Erdoğan bezeichnete uns öffentlich als Verräter und Unterstützer einer terroristischen Organisation. Dafür, dass wir uns für Frieden in unserer Heimat eingesetzt haben.“
Vor gut einem Jahr hatten die „Akademiker für den Frieden“ den Zorn von Recep Tayyip Erdoğan auf sich gezogen. In einer Petition forderten sie die türkische Regierung auf, den aus ihrer Sicht unverhältnismäßigen Militäreinsatz in den Kurdengebieten im Osten des Landes zu stoppen. Binnen weniger Tage unterzeichneten 1.128 Akademiker die Petition. Unterschrieben hat auch Olga Hünler. Wie viele andere verlor die Psychologin, die als Dozentin an der Wirtschaftsuniversität Izmir lehrte, ihren Job.
Hünler hat sich gerade noch rechtzeitig ins Exil geflüchtet: nach Bremen
Und damit habe sie noch Glück gehabt, sagt Hunler heute. Denn sie reiste noch vor der Putschnacht vom 15. Juli 2016 aus der Türkei aus – und damit bevor die Regierung in Ankara dazu überging, Staatsbeamten bei der Entlassung systematisch den Pass abzunehmen. Seit dem ersten Notstandsdekret Anfang September 2016 wurden 4.811 Akademiker aus 112 verschiedenen Universitäten auf diese Weise gefeuert, ihre vollen Namen wurden mit dem jeweiligen Dekret veröffentlicht. Damit wurden sie nicht nur öffentlich angeprangert – sondern de facto im eigenen Land festgesetzt. Hünler hat sich gerade noch rechtzeitig ins Exil geflüchtet. Und zwar nach Bremen.
Seit August forscht sie an der Universität dort als Philipp-Schwartz-Stipendiatin. Eigentlich ist das Programm, das die Alexander von Humboldt-Stiftung mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes ins Leben gerufen hat, für bedrohte Forscher aus Syrien gedacht. Aber unter den ersten 23 Stipendiaten waren bereits sechs aus der Türkei, und in der zweiten Runde Ende des Jahres waren es schon 21. Für die anstehende dritte Runde rechnet die Alexander von Humboldt-Stiftung mit einem erneuten Anstieg türkischer Stipendiaten. „Viele der entlassenen türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen nun nach Wegen, ihre wissenschaftliche Laufbahn in einem anderen Land fortzusetzen“, beobachtet Referatsleiterin Barbara Sheldon.
Die Stipendien richten sich also an jene Wissenschaftler, die noch vor den Notstandsdekreten entlassen worden sind – und ihren Pass behalten durften wie Olga Hunler. Oder solche, die heute mit ihrer Entlassung rechnen. Und dabei können deutsche Hochschulen erneut helfen. Bis zum 21. April haben sie Zeit, für die Kollegen aus der Türkei Stipendienanträge zu stellen. Immer vorausgesetzt, dass ihnen noch nicht die Pässe entzogen wurden. Bisher konnten fast alle Stipendiaten auch tatsächlich ausreisen, in einigen Fällen intervenierte das Auswärtige Amt. Doch Sheldon weiß auch: „Die Möglichkeiten enden im Fall von Passentzug.“
Auch die Universität Bremen will weiter agieren, solange es noch geht. Bisher hat sie über die Philipp-Schwartz-Initiative fünf bedrohte Wissenschaftler aufgenommen, so viele wie keine andere deutsche Hochschule. Schon in den 70er-Jahren beherbergte die Universität Bremen chilenische Forscher, die vor der Pinochet-Diktatur geflüchtet waren.
„Wir sehen uns verantwortlich für die Kollegen aus der Türkei“
Dass heute überwiegend Türken in Bremen Zuflucht finden, liegt auch an Yasemin Karakaşoğlu. Die Konrektorin, die neben dem deutschen auch den türkischen Pass besitzt, hat in Bremen die Partnerschaften mit mehreren türkischen Universitäten auf- und ausgebaut. Seitdem dort aber ganze Hochschulleitungen ausgetauscht und Kollegen wegen ihrer politischen Haltung entlassen wurden, hat Karakaşoğlu die Kooperationen aus Protest ausgesetzt.
Ihre Solidarität gilt den bedrohten Kollegen. An ihrem Lehrstuhl für Erziehungs- und Bildungswissenschaften hat sie bereits eine Genderforscherin untergebracht, die sie von einer Tagung aus der Türkei kennt. Für eine zweite Wissenschaftlerin sucht Karakaşoğlu gerade eine Geldquelle, um sie zumindest für ein Jahr anstellen zu können. Auch andere Kollegen würden versuchen, Stellen umzuwidmen oder Drittmittelprojekte an Land zu ziehen.
„Wir sehen uns verantwortlich für die Kollegen aus der Türkei“, sagt Karakaşoğlu. Insgesamt, so die Turkologin, haben an der Universität Bremen schon zehn Wissenschaftler aus der Türkei vorübergehend Zuflucht gefunden.
Wie viele bedrohte Forscher neben den bald etwa 100 Philipp-Schwartz-Stipendiaten an deutschen Hochschulen untergekommen sind, ist schwer zu sagen. Fragt man bei den Hochschulen nach, hört man oft: Man wolle das Thema zum Schutz der Betroffenen nicht an die große Glocke hängen.
„Erdoğan will jede Form der Opposition ausschalten“
Jedenfalls schaffen die Hochschulen mit Stipendien oder Stellenumwidmungen, was das deutsche Asylrecht Türken selten gewährt: Schutz in Deutschland. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben vergangenes Jahr 5.742 Türken Asyl beantragt, mehr als dreimal so viel wie 2015. Die Schutzquote für Türken sank hingegen von 14,7 auf 8,2 Prozent. Sie könnte jedoch in Zukunft steigen. Derzeit überarbeitet das Bamf mithilfe des Auswärtigen Amtes die Leitsätze für die Türkei, auf deren Grundlage Asylanträge entschieden werden. Nach einem Bericht des „Spiegel“ sieht die Behörde derzeit „deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung“.
Dass ihre Kollegen in der Heimat schutzwürdig sind, daran hat Olga Hunler keinen Zweifel. „Erdoğan will jede Form der Opposition ausschalten. Auch Akademiker, die nicht uneingeschränkt hinter ihm stehen.“ Was sie aber erstaunt: Einige der „Akademiker für den Frieden“ sind bis heute nicht entlassen worden. Die Kehrseite: Verlieren sie morgen ihren Job, nimmt ihnen der türkische Staat auch den Pass weg und verhindert ihre Ausreise. Dann rückt das Exil in weite Ferne. Trotz eines Stipendiums.
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