Als die Sea-Watch vor einigen Monaten von Hamburg-Harburg aus in See stach, um Flüchtlingen im Mittelmeer zu helfen, war fluter.de mit dabei. Wie die Hilfsaktionen liefen, erzählt nun Johannes Bayer im Interview. Der 27-jährige Schiffsbauingenieur war schon vor der Abfahrt in das Projekt involviert. Er brachte den ehemaligen Fischkutter auf den neuesten technischen Stand und war auf der Überfahrt  nach Lampedusa Teil der Crew. Bei dem anschließenden neuntägigen Einsatz vor der libyschen Küste wurden rund 600 Menschen gerettet.

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Eine Art schwimmende Notrufsäule. Die MS Sea Watch kreuzt im Mittelmeer, um in Seenot geratenen Flüchtlingen Erste Hilfe zu leisten

Eine Art schwimmende Notrufsäule. Die MS Sea Watch kreuzt im Mittelmeer, um in Seenot geratenen Flüchtlingen Erste Hilfe zu leisten

fluter.de: Wie lange warst du im Mittelmeer unterwegs?

Die Crew der Sea-Watch wechselt zweimal im Monat, da es kaum möglich ist, mit so einem relativ kleinen Schiff länger als zehn Tage auf See zu bleiben. Die Belastung für die Besatzungsmitglieder wird sonst zu groß. Ich war beim zweiten Turn in der ersten Julihälfte dabei. Er hat neun Tage gedauert.

Was ist in diesen neun Tagen passiert?

Insgesamt haben wir sechs Flüchtlingsboote aus Notsituationen gerettet. Das lief jedes Mal ein bisschen anders ab. Die Sea-Watch ist nicht groß genug, um Schiffbrüchige an Bord zu nehmen. Wir sind auf die Hilfe von größeren Schiffen angewiesen. Wir kümmern uns um die Erstversorgung und statten die Menschen mit Schwimmwesten aus, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Das ist unsere erste Priorität, da kaum einer der Flüchtlinge schwimmen kann. Dann folgt die Koordination der Bergung über das „Maritime Rescue Coordination Centre“ (MRCC) in Rom, der italienischen Leitstelle zur Seenotrettung. Von dort aus wird ein Schiff in der Nähe umgeleitet und zu uns geschickt. Bei der ersten Rettungsaktion ist uns zum Beispiel ein großer Tanker zu Hilfe gekommen. Dann haben wir das Flüchtlingsboot mit unserem kleinen Beiboot an den Tanker herangezogen, damit die Insassen über eine Jakobsleiter an Bord gehen konnten. Bei anderen Einsätzen war die italienische Küstenwache in vier bis fünf Stunden mit Schnellbooten vor Ort.

Euer Konzept einer Art schwimmenden Notrufsäule ist also aufgegangen.

Ja, und die geringe Größe der Sea-Watch hat sich dabei als enormer taktischer Vorteil erwiesen. Die Sea-Watch war oft das einzige Schiff in der Region, denn dieses Seegebiet ist ziemlich verlassen. Die gesamte Berufsschifffahrt macht einen Bogen darum, weil sie nicht in Rettungsaktionen verwickelt werden will, die eine Menge Zeit und Geld kosten. Und wenn die Schiffe der „Ärzte ohne Grenzen“ Flüchtlinge an Land bringen, dauert das mehrere Tage. Weil unser Schiff so klein ist, konnte das MRCC in Rom uns nicht anweisen, die Flüchtlinge aufzunehmen, die wir gesichtet hatten, sondern musste größere Schiffe zu Hilfe schicken. Das hat uns wiederum erlaubt, die ganze Zeit im Einsatzgebiet zu bleiben.

Seid ihr dabei in brenzlige Situationen geraten?

In einem Fall sind wir auf ein Schlauchboot gestoßen, das bereits im Begriff war unterzugehen: Die Schläuche waren undicht, Wasser war eingelaufen. So kam bereits am dritten Tag eine der Rettungsinseln zum Einsatz, die wir eigentlich nur für absolute Notfälle angeschafft hatten. Wir haben das Schlauchboot evakuiert und dann stundenlang in der prallen Sonne mit den Flüchtlingen ausgeharrt, bis die italienische Küstenwache kam. Wir saßen im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot mit ihnen. Es war wirklich knapp. Wenn wir zwei Stunden später gekommen wären, wären diese Menschen verloren gewesen.

War das eure schwierigste Mission?

Der letzte Einsatz auf meinem Turn war auch hart. Da sind wir auf ein Schiff gestoßen, das völlig überladen war. Es wäre schon mit 60 oder 70 Passagieren überfüllt gewesen, insgesamt waren aber über 120 Leute an Bord. Alle haben gestanden; wenn einer von ihnen umgekippt wäre, wären bestimmt zehn Leute ins Wasser gefallen. Die Lage war entsprechend angespannt. Noch dazu waren mehrere Babys, Kleinkinder und schwangere Frauen an Bord. Deshalb haben wir uns erneut entschieden, eine unserer Rettungsinseln einzusetzen, für die wir vor der Abfahrt immer wieder belächelt worden waren. Vor allem die Journalisten haben bezweifelt, dass diese schwimmenden Inseln vor Ort nützlich sein könnten.

Wie haben die Passagiere auf eure Ankunft reagiert?

Sie haben sich erstaunlich diszipliniert verhalten und sehr gut mit uns zusammengearbeitet. Deshalb ist auch niemandem etwas zugestoßen.

Kam es vor, dass ihr euch bedroht fühltet?

Im Gegenteil. Bei unserem ersten Einsatz hatten die Leute eher Angst vor uns, weil sie dachten, dass wir sie zurück nach Libyen bringen wollen. Sie haben uns zu verstehen gegeben, dass sie ins Wasser springen würden, falls wir das versuchen sollten. Sie wollten lieber sterben als umkehren. Das war schon hart. Nachdem wir ihnen unsere deutschen Pässe gezeigt hatten, fingen sie an, uns zu vertrauen.

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Trifft die MS Sea Watch auf ein sinkendes Flüchtlingsschiff, hat sie Rettungsinseln an Bord

Trifft die MS Sea Watch auf ein sinkendes Flüchtlingsschiff, hat sie Rettungsinseln an Bord

Gab es Versuche, an Bord der Sea-Watch zu gelangen?

Die Flüchtlinge sind ja nicht blöd. Sie sehen sofort, dass die Sea-Watch viel zu klein ist, um sie alle aufzunehmen. In meinem Einsatzzeitraum haben wir fast 600 Menschen gerettet. Kein einziger davon hat sich in irgendeiner Form aggressiv verhalten oder versucht, an Bord zu klettern, obwohl es Momente gab, in denen das ohne weiteres möglich gewesen wäre.

Wie habt ihr mit den Schiffbrüchigen gesprochen?

Wir haben ziemlich schnell gemerkt, dass wir kein Megaphon brauchen, um sie anzusprechen. Wir sind einfach ganz entspannt rangefahren und haben mit den Leuten geredet. Das war überhaupt kein Problem. Problematisch war eher die Kommunikation der Flüchtlinge untereinander, da sie zum Teil Französisch und zum Teil Englisch sprechen und sich in entsprechende Gruppen aufgeteilt haben. Die Leute kamen von überall her: aus Nigeria, aus Mali oder aus dem Sudan. Es waren sogar Menschen aus Bangladesch dabei – keine Ahnung, wie die nach Libyen gelangt sind. Die Herausforderung bestand dann darin, den verschiedenen Gruppen klarzumachen, dass wir nicht mehr wegfahren, dass Hilfe in Reichweite ist und dass sie bald nach Europa gebracht werden.

 

In welcher Verfassung waren diese Menschen, als ihr sie angetroffen habt?

Unterschiedlich. Viele von ihnen sind körperlich sehr fit, vor allem die Jüngeren sind oft komplett durchtrainiert. Allerdings merkt man ihnen die Strapazen an, die sie hinter sich haben. In einem Fall hatten wir es mit einer Gruppe zu tun, die bereits über 50 Stunden unterwegs gewesen war. In der Regel waren die Boote, die wir morgens angetroffen haben, in der Nacht gestartet und damit weniger als zwölf Stunden unterwegs. Die Schlepper gehen häufig sehr brutal mit ihnen um: Sie werden geschubst, geschlagen und gefesselt. Wir hatten mehrere Fälle von Knochenbrüchen, die eindeutig auf Misshandlungen zurückzuführen waren – gebrochene Unterarme, gebrochene Handgelenke, gebrochene Schlüsselbeine. Ganz schlecht geht es oft Kindern und schwangeren Frauen.

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Johannes Bayer, 27, hat schon vor der Abfahrt geholfen, das Boot hochseetauglich zu machen. Im Juli war er neun Tage mit an Bord

Johannes Bayer, 27, hat schon vor der Abfahrt geholfen, das Boot hochseetauglich zu machen. Im Juli war er neun Tage mit an Bord

Konntet ihr verfolgen, wie es nach der Bergung für die Passagiere weiterging?

Es ist unsere Priorität, die Leute vor dem Ertrinken zu bewahren. Was danach geschieht, ist für uns kaum nachvollziehbar. Die Leute, die von der italienischen Küstenwache aufgenommen wurden, kommen nach Lampedusa in ein einfaches Übergangslager und werden dort mit Nahrungsmitteln und Kleidung versorgt, bevor sie innerhalb von 48 Stunden mit Fähre oder Flugzeug nach Sizilien verfrachtet werden. Europa ist aber sicher nicht das gelobte Land, das sie vielleicht erwarten. Es ist nicht auszuschließen, dass für den ein oder anderen die Reise vorläufig in der Obdachlosigkeit am Mailänder Bahnhof endet. Damit muss man halt irgendwie klarkommen.

Dein Einsatz ist nun vorerst abgeschlossen und du bist wieder zuhause. Was hast du von der Sea-Watch mitgenommen?

Ich denke, der Erfolg unserer Mission hat der gesamten Crew viel Kraft und Bestätigung gegeben. Er zeigt auch, was man mit einem guten Team und einer gewissen Machermentalität erreichen kann. Wenn man eine gute Idee hat, sollte man sich nicht durch die Meinung von Leuten verunsichern lassen sollte, die vom Thema keine Ahnung haben, aber trotzdem mitreden wollen. Anfangs mussten wir viel Kritik von außen einstecken: Die Leute hielten uns für naiv und haben das gesamte Projekt in Frage gestellt. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass wir das Richtige getan haben.

Heiko Zwirner, Jahrgang 1972, schreibt seit 12 Jahren für fluter und fluter.de. Für seine Geschichten hat er Coworking-Spaces, Recycling-Anlagen und Erotik-Workshops für Behinderte besucht. Als er im April über die Abfahrt der Sea-Watch in Hamburg berichtete, war er erstaunt über die Entschlossenheit und das professionelle Vorgehen der freiwilligen Helfer.